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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Beckett Proustianer war, in »Das letzte Band« die verführerische Schockwirkung alter Tonbandaufnahmen, in »Oh les beaux jours« die senile Beschwörung der Vergangenheit. Maria Schell, die auf ihrem Berghof die letzten Jahre von Fernsehern umgeben im Bett verbringt und sich ihre alten Filme ansieht. Oder Kane, dem ein Medienimperium und ein Anwesen von orientalischer Pracht den Schwung der Jugend und die verpaßte Kindheit nicht ersetzen können.
    Auf dem Spielplatz ein Junge, dessen ferngesteuertes Flugzeug sich in einem Baum verfangen hatte. Am Baumstamm kam er nicht hoch, er warf eine Weile vergeblich ein Stöckchen nach dem Flugzeug, es wurde schon dunkel. Ich hatte mir einmal vorgenommen, nicht zu sterben, bevor ich mir ein ferngesteuertes Spielgerät gekauft hätte. Als Kind habe ich lediglich einmal ein Buch »RC-Flugmodelle und RC-Modellflug« aus dem VEB Verlag für Verkehrswesen besessen (»Als Lehr- und Lernmaterial für den Modellsport vom Zentralvorstand der Gesellschaft für Sport und Technik anerkannt und empfohlen«). Ich war so gemein gewesen, im Buchladen auf das einzige vorhandene Exemplar zu bestehen, obwohl ein größerer Junge, der bestimmt mehr damit anfangen konnte, mich anflehte, es ihm zu überlassen. Natürlich nützte mir das Buch nichts, ich konnte mit meinen Elektronik-Kenntnissen keinen Sender bauen.
    Wir haben das Flugzeug dann wieder freibekommen, und der Junge rannte damit nach Hause. Vielleicht war meine Seele in letzter Zeit wie dieses Flugzeug und hatte sich in einem Baum verfangen. Und eines Tages wird es heißen: »Eine schwere Proust-Lektüre setzte ihm zu, von der er sich aber schließlich doch noch einmal erholen konnte«.
    Die wiedergefundene Zeit, S. 387–407
    Rahel rezitiert, wie Schauspieler es so oft tun, etwas befremdlich, aber man kann sich daran gewöhnen, auch wenn man sich erst entscheiden muß, ob man es entsetzlich oder genial findet. Bloch hat bei diesen Versen » in Gedanken ausschließlich seine Vorbereitungen getroffen, um, gleich nachdem das Gedicht zu Ende war, wie ein Belagerter, der einen Ausfall versucht, hervorzustürzen und, wenn auch nicht über die Leichen, so doch wenigstens über die Füße seiner Nachbarn hinwegstürmend, die Vortragende zu beglückwünschen, sei es aus einer irrigen Vorstellung von seinen Verpflichtungen gegen sie, sei es aus bloßem Bedürfnis, sich zu bekunden «.
    Die Herzogin von Guermantes ist nicht mehr so geistreich und boshaft-witzig wie einst: » Wenn der Moment für ein witziges Wort gekommen war, unterbrach sie sich für die gleiche Zahl von Sekunden wie früher, sah aus, als zögere sie, als gehe etwas Schöpferisches in ihr vor, aber der Ausspruch, den sie zustande brachte, taugte dennoch nicht viel. « Vielleicht werde ich so meine Tage als vorlesender Autor beschließen, einfach nur noch die Bühne betreten, schweigen und damit noch einmal den Glanz früherer Darbietungen heraufbeschwören.
    Die Herzogin fühlt sich übrigens fast geschmeichelt, daß ihr Mann sie wieder betrügt, » weil es mich quasi jünger macht. « Eine schöne Pointe des Ehelebens. Sie erinnert sich nur sehr ungenau an den Zeitpunkt von Marcels erster Bekanntschaft mit ihr, was ihm nicht gefallen kann, da so eine Laxheit in der Geschichtsschreibung ihres Lebens die wichtige Zeit der Schwärmerei und der zu ihr aufstrebenden Hoffnungen geringschätzt.
    Unklares Inventar:
    – Zuckerreibe; Fagon, ein Arzt; Géraudel-Pastillen.
    Streitbare These:
    – » Frauen finden es nett, wenn man noch ihrer Schönheit gedenkt, so wie Künstler gerührt sind, wenn man ihre Werke bewundert. «
    181 . Fr, 26.1., Berlin
    Eisiger Wind blies mir ins Gesicht, Schnee wehte über den glatten Fahrradweg, meine Bremsbacken sind abgenutzt, ich hatte die Nacht nach der »Chaussee« schlecht geschlafen und das Gefühl, mich unter so vielen Menschen erkältet zu haben. Außerdem trug ich eine Unterhose und eine Trainingshose unter der Jeanshose, zwei Pullover, drei Hemden und Wanderschuhe, was meinen Bewegungen etwas Schwerfälliges gab. Ein Vorgeschmack darauf, wie ich eines Tages mit meinen Gelenken zu kämpfen haben und wieviel Willenskraft ich brauchen würde, um auch nur den Arm nach meinem Teller auszustrecken und den Löffel festzuhalten. Es half aber nichts, ich war mit Falko Hennig zum Plakatieren für unsere »Weltchronik«-Premiere verabredet, wir mußten jede Möglichkeit nutzen, ein ökonomisches Fiasko zu verhindern. Wegen der vielen Kleidungsschichten

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