Schmidt Liest Proust
immer, und selbst Papier würde bald nicht mehr zu bezahlen sein. Außerdem wußte man gar nicht, was man schreiben sollte und schlief immer mit dem Kopf auf der Tischplatte ein, während aus den anderen Wohnungen auf dem Hinterhof laute Partymusik zu hören war. Also zur Sicherheit wenigstens das Studium beenden, auch wenn es das falsche ist? Nur daß man so neugierig auf die ganzen Bücher war, die nichts mit den Seminarthemen zu tun hatten, meistens nicht mal mit dem Studium. Andererseits konnte man nicht ewig nur fremde Erfahrungen konsumieren, man mußte doch die Welt bereisen und eigene sammeln! Oder aufs Dorf, weil Bodenständigkeit am Ende vielleicht mehr zählte als oberflächliche Kontakte mit der Fremde? Und überall, wo man hinkam, dachte man: Könnte man hier leben? Wie müßte die perfekte Wohnung aussehen? Oder sollte man konsequent sein und sich als Nomade verstehen, mit einem Koffer und kahlen Wänden, dann wäre man unkorrumpierbar? Aber andererseits wäre es wünschenswert, an einem Ort zu leben, der solch eine Ausstrahlung hatte, daß er die Texte praktisch selbst schrieb. Aber man hatte ja gar kein Geld! Nur als Reserve dieses längliche, mit Pfennigen gefüllte Glas im Flur.
Weil wir Angst hatten, allein zu sein, fiel es uns so schwer, uns zu trennen, obwohl wir dauernd stritten. Ich träumte von anderen Mädchen und sie ging fremd, so war die Arbeitsteilung. Das hat eine langjährige Phobie begründet, in Beziehungen den richtigen Moment zu verpassen und, weil man aus Angst vor Endgültigkeiten zu lange gewartet hat, sich nicht mehr trennen zu können. Aber man wußte ja nicht, ob die Geduld sich nicht später noch auszahlen würde, mit achtzig ist es doch schön, jemanden an seiner Seite zu haben, der einen seit sechzig Jahren kennt. Aber woran soll man mit zwanzig sehen, wer das sein könnte? Ist dafür ein Instinkt nötig, den wir zwar haben, der sich aber so selten zeigt wie der Halleysche Komet? Wie soll man ihn dann erkennen? Vielleicht hat man ihn ja immer mit normalem Seitenstechen verwechselt?
Ich weiß nur eins: Ich will mit siebzig auch Graupensuppe kochen für meine Frau und unsere Skatrunde.
Die wiedergefundene Zeit, S. 347–367
Wie es jetzt Neulinge in der Gesellschaft gibt, die die Alten mit ihrer Unkenntnis der Geschichte dieser Kreise schockieren, so ist auch Marcel als junger Mann einmal in den Salons aufgetaucht. Im Alter vergißt man aber sowieso immer mehr und wird dadurch fast milde, auch wenn man immer verbittert gewesen war. Man erinnert sich nicht mehr genau, ob man mit jemandem seit zehn Jahren nicht mehr spricht oder ob man sich das nur einbildet. Der Tod wird » quasi gesellschaftsfähig « und zu einem Zwischenfall, » der eine Person mehr oder weniger deutlich charakterisierte «. Man sagt dann » der Soundso ist ja tot «, wie man sagen würde: » Er verbringt den Winter im Süden. « Es ist überhaupt bei Menschen, die man länger aus den Augen verloren hat, schwer zu entscheiden, ob es sich um » Krankheit, Abwesenheit, Zurückgezogenheit auf dem Lande oder Tod « handelt. Der Tod der anderen ist für viele das einzige Mittel, » auf angenehme Weise ein Bewußtsein ihres eigenen Lebens zu erhalten «.
Grimmige Pointe unserer Existenz, Marcel erkennt » eine dicke Dame « nicht gleich, die ihn begrüßt, und legt deshalb übertriebene Liebenswürdigkeit in sein Lächeln, während er ihr Gesicht einzuordnen versucht. Dabei ist es Gilberte, seine Jugendliebe!
Verstorben:
– Marquise d’Arpajon, Gräfin d’Arpajon.
Unklares Inventar:
– Ein Aufbruch » à l’anglaise «, Mounet-Sully, Coquelin, Henry Bidou, General Townsend, General Goringer, Bellonen, der Graben der Madame de Sévigné.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– Beim vorzeitigen Aufbrechen von einem Konzert die mimische Verzweiflung über eine Trennung demonstrieren, die nicht endgültig sein wird.
Verlorene Praxis:
– Aus den in der Gesellschaft vollzogenen Wandlungen Wahrheiten entnehmen, die würdig sind, einen Teil seines Werkes zu untermauern.
– Seine vordem säuerliche Natur mit dem Zucker der Güte versetzen.
– Sich, sobald eine Person der eigenen Altersklasse verschieden ist, vorkommen, als habe man bei einem Wettbewerb über einen seiner beachtlichsten Konkurrenten den Sieg davongetragen.
– Sich nicht mehr erinnern können, ob es mit jemandem früher einmal, auf der Rückfahrt von einer Gesellschaft, im Wagen zu einem Zärtlichkeitsaustausch gekommen ist.
–
Weitere Kostenlose Bücher