Schmidt Liest Proust
hatte ich Mühe, auf dem Klo zu pinkeln. In Outdoor-Läden gibt es ja ein spezielles Beutelchen, mit dem man sich im Schneesturm erleichtern kann, ohne sich auszuziehen, daran werde ich beim nächsten Mal denken müssen. Die Plakate wogen Zentner, das Klebeband versagte in der Kälte, der Wind zerrte das wertvolle Druckmaterial in den Matsch, und wir hatten keine Videokamera dabei, um diese Clownsnummer zu dokumentieren. Die Tour führte von der Lottumstraße zum Kino »Babylon«, unterwegs überklebten wir rücksichtslos alle fremden Plakate. Falko meinte, wir könnten den überall zu lesenden Warnhinweis ignorieren. Die Werbefirma, die die Flächen bereitstellte, würde es nicht wagen, uns zu verklagen, weil sie uns dann als potentielle Kunden verlieren würde.
Im »Babylon« trafen wir zufällig Judith Hermann, die dort mit ihrem Sohn zum Kinderkino ging. Berlin war ein Dorf. Sie fragte mich, was ich als nächstes lesen werde, ein Bekannter von ihr hätte nach Proust gar nichts mehr lesen können, und ich sagte, daß ich gerade eine Thomas-Mann-Biographie angefangen hätte, weil es immer so tröstlich sei, sich von Zeit zu Zeit mit dieser Familie zu befassen. Sie selbst fresse sich gerade durch Thomas Manns Romane und sei ganz benebelt, sagte sie, eine schöne Koinzidenz. Wie oft man sich anhören müsse, Thomas Mann sei langweilig, meinte ich. Ja, sagte sie, aber es sei doch auch wieder schön, wenn man ihn ganz für sich habe. Ich hatte mich im Dezember einmal mit ihr getroffen und befürchtet, alle im Café würden uns anstarren, weil sie so berühmt ist. Es nahm aber niemand Notiz von uns und mir wurde bewußt, daß sie hundertmal berühmter sein kann als ich, damit aber immer noch zehntausendmal unbekannter ist als irgendeine Serienschauspielerin von Pro7. Es ist ein grundlegender Irrtum von Autoren zu denken, die Welt warte auf ihr nächstes Buch.
Auf dem Rückweg sah ich, daß viele unserer Plakate schon vom Wind zerfetzt oder von der Konkurrenz heruntergerissen worden waren, hier und da hing noch ein Rest, und man war stolz. Es hatte letztlich Spaß gemacht, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Wozu habe ich mir damals meine Gesundheit ruiniert, werde ich meinen Kindern einmal sagen, damit ihr mein Erbe mit Füßen tretet?
Ich fuhr am Haus vorbei, in dem meine Tochter wohnt, immer ein seltsames Gefühl. Trotz meiner Kopfschmerzen mußte ich Proust lesen, und es zeigte sich wieder, daß das Buch einem je nach der eigenen Verfassung spannend oder langweilig vorkommt. Vielleicht bin ich unkonzentriert, aber ich habe den Eindruck, daß er auch vierzig Seiten vor dem Ende noch keine Anstalten macht, den Schlußakkord zu setzen. Als hätte er noch weitere tausend Seiten Zeit, ergeht er sich in geschwätzigen Details. Und die zahlreichen Fußnoten fügen dem Text nichts Wesentliches hinzu. Als ich endlich am Rechner saß, waren die Kopfschmerzen aber schnell vergessen. Daß man immer noch denkt, man müßte sein Glück jenseits des Schreibens finden, wo man doch schon privilegiert ist, wenn man wenigstens eins im Schreiben hat! Wenn ich nicht arbeite, vergesse ich aber immer, daß ich Autor bin oder kann es mir nicht vorstellen. Ich kann nur beim Tippen denken.
Ich habe so lange Jahre herumgestochert und das eigentlich Aufzuschreibende nicht gesehen. Und jetzt, wo ich so schreibe, wie ich schreibe, müßte es doch kinderleicht für jeden sein, das einfach nachzumachen. Aber der eigene Stil ist auch ein Gefängnis, man will doch nicht festgelegt sein. Paul Klee ist ein wundervoller Maler, aber er ist eben nur Paul Klee. So, wie man Frauen liebt, die nicht zu einem passen, bewundert man auch Bücher, bei denen jeder denken würde, man könne nichts damit anfangen, und wünscht sich, so zu schreiben.
Ich wünsche mir eine Zeit, in der ich wieder von der Dusche zum Schreibtisch haste, weil ich keine Zeit verlieren will, so eilig habe ich es, Vokabeln zu lernen oder einen Text zu redigieren. Eigentlich muß ich dafür nur in irgendein Land fahren, die Zeitung kaufen und den Gedanken verdrängen, daß das eine Flucht sein könnte und daß ich nicht mein Leben lang neue Interessen anhäufen kann. Endlich einmal nach Griechenland, um die Topographie der klassischen Orte körperlich zu erleben? Und auch noch Griechisch lernen? Das dürfte meine wenig ausgeprägte Begabung für schwerelos über allen Sachthemen schwebenden Party-Smalltalk noch weiter unterminieren. Wer heute noch ein Fremdwort kennt, ist ja
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