Schmidt Liest Proust
Arbeitsstunden keine Leute vorlassen. « Das Dumme ist nur, daß irgendwann sowieso keine mehr kommen … » Ich aber würde den Mut finden, denen, die mich besuchen würden oder mich abholen ließen, zu antworten, ich hätte wegen wichtiger Dinge, über die ich mich unverzüglich unterrichten müsse, ein dringendes, überaus bedeutsames Rendezvous mit meinem eigenen Ich. « Seltsamerweise werde einem die Bereitschaft zum Verzicht, die sich in solch einer Haltung äußert, als Egoismus ausgelegt. Dabei will er doch fern von den Menschen leben, » um mich mit ihnen zu beschäftigen «, um » die Kurve zu definieren und das Gesetz herauszustellen, das die Gebärden, die sie machten, die Worte, die sie sagten, ihr Leben, ihre Natur bestimmte «. Was er Askese nennt, wäre für mich allerdings schon ein Fortschritt, denn » leichte Liebesbegegnungen mit eben erblühten jungen Mädchen « würden die einzige » erlesene Nahrung « darstellen, » die ich allenfalls noch meiner Einbildungskraft gestatten könnte, die somit jenem berühmten Pferde glich, das nur mit Rosen gefüttert werden durfte «. Gilberte solle ihn doch hin und wieder einladen, wenn sie solche jungen Mädchen zu Besuch habe, allerdings würde er von diesen nur wollen, daß sie ihm » die Träumereien und Traurigkeiten von ehedem wiederschenkten, höchstens eines unwahrscheinlichen Tages einen keuschen Kuß «.
Der Reiz langer Serien und dicker Bücher, man kann die erstaunlichsten Werdegänge inszenieren: die ehemalige Prostituierte Rahel ist inzwischen eine berühmte Schauspielerin, für deren Rezitationen man sogar die Berma versetzt. Allerdings erkennt Marcel die » abscheuliche alte Frau « nicht sofort, als die sich ihm Rahel darstellt.
Die hoffnungslose Vereinsamung der großen Berma, zu deren Einladung niemand kommt, weil am selben Tag alle wie durch die Wirkung einer Saugpumpe zu den Guermantes gezogen werden, wo Rahel spielen soll. Die todkranke Berma geht im übrigen wieder auf Tournee, um mit dem Honorar die Luxusbedürfnisse ihrer Tochter zu befriedigen, die allerdings darin bestehen, ständig ihr neben dem der Berma gelegenes Haus ausbauen zu lassen, » unaufhörliche Hammerschläge unterbrachen daraufhin den Schlaf, den die große Tragödin so sehr nötig hatte «.
Unklares Inventar:
– die Balthy, die Mistinguett, die Réjane (Schauspielerinnen); Erechtheion.
Bewußtseinserweiterndes Bild:
– » Die sterbenden Augen standen noch verhältnismäßig lebendig in der damit kontrastierenden furchtbaren Knochenmaske und glänzten schwach wie eine Schlange, die zwischen Felsen schläft. «
Verlorene Praxis:
– Sein Geld mit der Keckheit eines Kinds der Straße gewohnheitsmäßig im Strumpf verbergen.
– Es für eine Form intellektueller Überlegenheit halten, leicht an Langeweile zu leiden.
180 . Do, 25.1., Berlin
Warum hört man lieber Schriftstellern zu, wenn sie von sich erzählen, als Verwandten oder Freunden? Warum projiziert man seine Gefühle in die Worte von Wildfremden und bekommt bei Nahestehenden den Mund nicht auf? Liegt es wirklich an der Qualität der Texte? Aber warum führen wir dann überhaupt noch Gespräche, wenn wir dabei ständig unter unserem Niveau bleiben? (Oder sollten wir tatsächlich immer singen, wie in »On connaît la chanson«? Ist nicht jede Äußerung, die kein Zitat enthält, ohne Würze? Aber kann man sich überhaupt äußern, ohne zu zitieren?) Was unterscheidet einen Fremden, der einen auf einer Party mit sentimentalen Erinnerungen quält (vielleicht sogar an etwas, was einem selbst wichtig ist), von einem Autor, der in einem Text seinen verlorenen Paradiesen nachtrauert? Ist es die radikale Offenheit, die im direkten Gespräch peinlich berühren würde? Die formale Leistung? Von jemandem, den man als ausgeglichen und standhaft schätzt, möchte man doch nicht erfahren, daß er in Wirklichkeit seit Jahren unter Depressionen leidet, während ein Autor scheinbar immer für eine Erfolgsgeschichte steht, schon weil wir ihn lesen.
Was macht man, wenn man einsehen muß, daß man in der Skala seiner Empfindungen und in der Struktur, die man der Selbsterzählung des eigenen Lebens täglich gibt, unbewußt immer eine tapsige und inkonsequente Version von Proust war? Wozu soll man Prousts Experiment wiederholen? Der Rückzug in die Erinnerung ist ja eher ein menschliches Schicksal als eine freie Entscheidung. Wenn man vorhat, die Zeit festzuhalten, kann man aber nur scheitern. Man versteht, wie stark
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