Schmidt Liest Proust
schon ein Paria. Alles lesen, alles wissen, alles sehen, ohne zu irgend etwas verpflichtet zu sein. Mehr will ich doch gar nicht.
Die wiedergefundene Zeit, S. 407–427
Ich sagte es schon, der Reiz langer Serien, die unerschöpflichen Möglichkeiten, im Lauf der Jahre jeden mit jedem zu verbandeln. Auf seine alten Tage ist nun der Herzog von Guermantes in Odette verliebt, die ja inzwischen Madame de Forcheville heißt. » Er war nur noch eine Ruine, aber eine großartige, oder eigentlich weniger noch als eine Ruine, eher das romantische Bild eines Felsens im Sturm. Auf allen Seiten von Wogen des Leidens, des Zorns über seine Leiden und der steigenden Flut des Todes, die ihn rings einzuschließen drohte, gepeitscht, bewahrte er auf seinem gleich einem Felsblock verwitterten Gesicht den Stil, den Schnitt, den ich immer bewundert hatte. « Warum diese Fixierung mancher Männer auf Frauen, die » nicht ihr Genre « sind? » Eine Frau, die ›unser Genre‹ ist, wird selten gefährlich, denn sie will von uns nichts, sie stellt uns zufrieden, verläßt uns schnell und nistet sich nicht in unserem Leben ein. «
Die Synthese der Wege nach Guermantes und nach Méséglise in der Tochter von Gilberte (Swann, Odette …) und Saint-Loup (Charlus, Herzogin von Guermantes …). Vier Seiten braucht Marcel inzwischen, um stichpunktartig seine Beziehung zu den einzelnen Figuren des Buchs, und wie er von der einen zur anderen gelangt ist, zu rekapitulieren. Das Schlimme ist, daß ich das alles in einem halben Jahr vergessen haben werde.
Unklares Inventar:
– Nacaratfarbene Seide, Vertiko.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– » Ich sah, wie auf dem Gesicht von Madame de Guermantes jene leichte Verzerrung entstand, die andeutet, daß man auf dem Wege der Überlegung etwas, was man soeben gehört hat, mit wenig angenehmen Gedanken in Beziehung setzt. «
Verlorene Praxis:
– Als Frau » Tanz und Vergnügen und alles übrige für das hergeben, was einem Mann Vergnügen macht oder ihm auch nur Sorgen erspart, wofern er einen wirklich liebt. «
– Weil man von allem Snobismus frei ist, einen unbekannten Literaten zum Gatten wählen und die Familie so wieder unter das Niveau hinabführen, von dem sie emporgestiegen war.
182 . Sa, 27.1., Berlin
– Was ham wirn heute gemacht?
– Ich hab mich mit Mama gestreitet, da hat sie eine schlechte Laune.
– Und dann?
– Du weißt doch, ich war im Kindergarten, da hab ich eingepullert, aber nur ein bißchen, is nich schlimm, da hat Heike mir einen neuen Schlüpfer und neue Strumpfhosen gegeben und dann ham wir »Appepip« gesagt, dann hat Heike »Ärmel« gesagt, die man zum Essen hochkrempelt, dann is Papa gekommen, dann hab ich mit der Matti im Flur kurz ganz viel gedrückt, dann sind wa umgefallen, hat nich wehgetan, war nur ein Spaß, war lustig, dann sind wa losgegangen zum Spielplatz, da waren die frechen Jungs, der eine Junge hat mir gehaut, und der andere hat mir umgeschubst auf dem Trampolin drin, dann bin ich auf dem Hochklettergerüst gestiegen, dann sind wa zum Puppentheater gegangen, da war aber nicht auffen, dann ham wa ein Zopfeis gegessen und Papa hat ein Kaffee getrunken, der is aber nur für Gewachsene, dann sind wa nach Hause gegangen, dann hab ich mich noch kurz im Flur gedreht, dann war ich eine Bummelliese, dann haben wa uns ausgezogen, dann hab ich Zähne geputzt mit Zahnputze, dann hast du mir den Schlafanzug angezogen, dann hast du mir das Buch vorgelesen mit dem Krokodil, wo alles falschrum ist, und jetzt laß mich mal bitte gucken, ich will auch mal was aufschreiben in dein Buch, laß mich mal ein bißchen in Ruhe, siehste, klappt doch.
– Soll ich die Tür noch ein bißchen auflassen?
– Ja.
– Gute Nacht.
– Gute Nacht.
Die wiedergefundene Zeit, S. 427–447 (Schluß)
Die sechzehnjährige Tochter Gilbertes wird ihm vorgestellt, die er noch nie gesehen hat. Die Zeit » hatte sie wie ein Meisterwerk geformt «. Sie » sah meiner Jugend gleich «. Außerdem hat sie ja Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Saint-Loup, » was alle, die ihren Vater gekannt hatten, zu langen Träumereien bewog «. Diese Materialisierung der verflossenen Jahre in einer jungen Person ist nur noch ein weiterer Anstoß zu der Überlegung, » daß dieses Leben, das man unaufhörlich fälscht, in einem Buch verwirklicht werden könnte «. Denn was wir unser Leben nennen, ist nur eine unaufhörliche Fälschung der wirklichen Version, die wir eigentlich in uns spüren, und der
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