Schmidt Liest Proust
Seitdem man nur noch für geistige Dinge lebt, gern sein Wissen zur Schau stellen.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » [J]eder Sterbefall bedeutet für die anderen eine Vereinfachung ihrer Existenz, er nimmt einem alle Skrupel wegen des Erzeigens von Dankbarkeit ab und hebt den Zwang zum Besuchemachen auf. «
179 . Mi, 24.1., Berlin
Das Schöne an einem Kind ist, daß man seinetwegen wieder seine alten DDR-Märchenplatten hören darf. Fred Düren, Rolf Ludwig, Klaus Piontek, Elsa Grube-Deister, Kurt Böwe, Dieter Mann, Dietrich Körner, Jutta Wachowiak, diese wohltuenden Stimmen, die, weil man sie so früh in sich aufgenommen hat, auch heute noch direkt ins Unterbewußtsein dringen wie Musik oder Alkohol. Außerdem ist man erst jetzt in dem Alter, den eigentlichen Sinn dieser Märchen zu verstehen:
Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich
In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte einmal ein Meßingenieur, der hatte eine wunderschöne Tänzerin als Tochter. Sie war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles schon gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien, also natürlich vor allem, wenn das Mädchen mit seiner Truppe eine Autoshow in Saudi-Arabien oder Pakistan dekorierte. Nahe bei dem Haus war der Humboldthain, und mitten darin, unter einer von den Miniermotten zerfressenen Kastanie, ein Gully. Wenn nun der Tag recht heiß war, ging die junge Tänzerin in ihrem Tiger-Top hinaus in den Humboldthain und setzte sich an den Rand des kühlen Gullys. Und wenn sie Langeweile hatte, nahm sie einen Flummy, warf ihn in die Höhe und fing ihn wieder auf. Das war ihr liebstes Spiel.
Nun trug es sich einmal zu, daß der Flummy der Tänzerin gerade in den Gully hineinrollte. Und der war tief, so tief, daß man keinen Grund sah.
Da fing die Tänzerin an zu weinen und weinte immer lauter und konnte sich gar nicht trösten. Als sie so klagte, rief ihr plötzlich jemand zu: »Was hast du nur, Tänzerin? Du schreist ja, daß sich ein Stein erbarmen möchte.«
Sie sah sich um, woher die Stimme käme, da erblickte sie einen Frosch, der seinen dicken, häßlichen Kopf aus der Jauche streckte. »Ach, du bist’s, alter Wasserpatscher«, sagte sie. »Ich weine über meinen Flummy, der mir in den Gully hinabgefallen ist!«
»Sei still und weine nicht«, antwortete der Frosch, »ich kann wohl Rat schaffen. Aber was gibst du mir, wenn ich deinen Flummy wieder heraufhole?«
»Was du haben willst, lieber Frosch«, sagte sie, »meine Klamotten, meinen iPod, Glitzersteine, auch noch das Porsche-Schlüsselband, das ich trage.«
Der Frosch antwortete: »Deine Klamotten, deinen iPod, die Glitzersteine und dein Porsche-Schlüsselband, die mag ich nicht. Aber wenn du mich liebhaben willst und ich dein Geselle und Spielkamerad sein darf, wenn ich an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem Stullenbrett essen, aus deiner Campari-Flasche trinken, auf deiner Matratze schlafen darf, dann will ich hinuntersteigen und dir den Flummy heraufholen.«
»Ach, ja«, sagte sie, »ich verspreche dir alles, was du willst, wenn du mir nur den Flummy wiederbringst.« Sie dachte aber, der einfältige Frosch mag schwätzen, was er will, der glaubt doch selber nicht, was er sagt.
Als der Frosch das Versprechen der Tänzerin erhalten hatte, tauchte er seinen Kopf unter, sank in die Jauche, und über ein Weilchen kam er wieder heraufgerudert, hatte den Flummy im Maul und warf ihn ins Gras. Die Tänzerin war voll Freude, als sie ihr schönes Spielzeug wiedererblickte, hob es auf und sprang damit fort.
»Warte, warte!« rief der Frosch. »Nimm mich mit, ich kann nicht so schnell hüpfen wie du!« Aber sie hörte nicht darauf, eilte nach Hause und hatte den Frosch bald vergessen, denn es rief ja ständig jemand auf ihrem Handy an.
Am andern Tag, als sie sich mit dem Vater und ihren vielen Freunden zur Tafel gesetzt hatte und eben frühstückte, da kam, plitsch platsch, plitsch platsch, etwas den Hausflur entlanggekrochen. Als es oben angelangt war, klingelte es und rief: »Tänzerin, mach mir auf!«
Sie lief und wollte sehen, wer draußen wäre. Als sie aber aufmachte, saß der Frosch vor der Tür. Da warf sie die Tür hastig zu, setzte sich wieder an den Tisch, und es war ihr ganz ängstlich zumute, der Frosch hätte ja wenigstens mal vorher anrufen können.
Der Meßingenieur sah wohl, daß ihr das Herz gewaltig klopfte, und sprach: »Ei, was fürchtest du dich? Steht etwa die GEZ vor der
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