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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Mensch – geschrieben hat, was man denkt? Die erste Anmaßung ist ja schon, sich einzubilden, er habe das. Dabei sind Bücher wie Gesprächspartner, die nicht weglaufen können, die Leser bürden ihnen ihr Seelenleben auf, und ihre Identifikation mit dem Buch ist vielleicht eine genauso fehlgeleitete Projektion wie die eines Stalkers mit seinem Opfer.
    Außerdem gibt es keine Gerichtsverhandlungen über die Probleme meines Lebens, bei denen Proust als Gesetzestext dient. Als Autoritätsbeweis funktioniert er nur bei literarisch denkenden Menschen, mit denen man eher selten zu tun hat. Jemand, der an meiner Gefühlskälte leidet, läßt sich nicht damit vertrösten, daß Proust diesen Charakterzug virtuos beschrieben hat. Aber Proust beschreibt eben nicht nur, was ihn betrifft, sondern was in jedem steckt, was sich nur nicht jeder bewußt macht. Literatur als Menschenforschung, die man als Laie ignorieren kann, aber wer selbst auf dem Gebiet des Menschen forscht, wird sich lächerlich machen, wenn er hinter Proust zurückfällt. Warum fühlt man sich geschmeichelt und in seinem Dasein auf eine höhere Stufe gestellt, wenn man sich in Prousts Helden wiederzufinden glaubt, und nicht, wenn man seinen Charakter in den Fallberichten eines Psychiaters entdeckt?
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 423–445
    Saint-Loup ist unglücklich in eine Schauspielerin unter seinem Stand verliebt: » Da seine Geliebte ihm nie sagte, was sie ihm eigentlich vorwarf, kam er auf die Vermutung, daß sie, da sie sich darüber ausschwieg, es am Ende selbst nicht recht wisse und seiner einfach überdrüssig sei. «
    Marcel hat nicht das Glück oder Pech, wegen einer Frau, die er liebt, für die anderen blind zu sein, im Gegenteil: » Ich befand mich in einer jener Perioden der Jugend, die, nicht von einer speziellen Liebe beherrscht, allem offen stehen. « In dieser Verfassung beobachtet er am Strand eine Gruppe Mädchen, eines davon schiebt ein Fahrrad, zwei andere tragen Golfschläger, » ihr Anzug aber war völlig verschieden von dem der anderen jungen Mädchen in Balbec, von denen einzelne zwar dem Sport huldigten, aber ohne dafür eine Spezialkleidung anzulegen «. Zu dieser Stunde spazieren die Urlauber auf der Mole zu einer gefürchteten Stuhlreihe, » wo sie, aus Schauspielern nunmehr zu Kritikern geworden, sich niederlassen würden, um ihrerseits die Vorüberwallenden intensiv zu mustern «. Diese Leute tun angestrengt so, als sähen sie die anderen nicht, aber, » die Liebe – und infolgedessen die Furcht – gegenüber der Menge ist eine der mächtigsten Triebkräfte der Menschen, sei es, daß sie den andern gefallen, sie verblüffen oder aber ihnen zeigen wollen, daß sie sie verachten. Auch bei einem einsam lebenden Menschen hat die vollständige und bis ans Lebensende dauernde Abschließung oft eine fehlgeleitete Liebe zur Masse der Menschen als Basis, eine Liebe, die so sehr jedes andere Gefühl überwog, daß er, da er beim Ein- und Ausgehen nicht die Bewunderung der Concierge, der Passanten, des vor der Tür wartenden Kutschers zu erringen vermochte, vorzog, gar nicht mehr von ihnen gesehen zu werden, und jedwede Tätigkeit aufgab, durch die ein Ausgehen erforderlich würde «.
    Die Mädchen in der sportlichen Spezialkleidung leiden nun offenbar nicht an enttäuschten Gefühlen der Menge gegenüber, sie schreiten » mit der Beherrschung aller Gesten, die eine vollkommene Schmeidigung des eigenen Körpers und eine aufrichtige Nichtachtung gegenüber der übrigen Menschheit verleiht, ohne Zögern und ohne Steifheit geradeaus, wobei sie genau die Bewegungen ausführten, die sie ausführen wollten «. Sie sind sozusagen wie die Marionetten bei Kleist, ihre Seele stört sie nicht beim geschmeidigen Gehen.
    Zunächst kann man sie kaum voneinander unterscheiden. Und vielleicht ist es gar kein Zufall, daß ausgerechnet sie Freundinnen sind, » vielleicht hatten sich die Mädchen (deren Haltung schon ihre kühne, oberflächliche, harte Natur enthüllte), übermäßig empfindlich gegen alles Häßliche und Lächerliche, unfähig, einer Anziehung geistiger oder seelischer Art nachzugeben, in der Schar gleichaltriger Kameradinnen auf Grund eines gemeinsamen Widerwillens gegen alle die zusammengefunden, bei denen eine nachdenkliche und gefühlsbetonte Veranlagung sich in Schüchternheit, Befangenheit und Ungeschick, kurz durch etwas verriet, was sie wahrscheinlich ein ›unsympathisches Wesen‹ nannten, und diese Geschöpfe von sich

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