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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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suche ich immer nach den Brüchen, während einem die Witwe des Verstorbenen seinen SPD-Mitgliedsausweis zeigt und sagt: »Im Grunde hat er nur für seinen Garten gelebt.« Die möglichen Leben, die man verraten mußte, um für seinen Garten zu leben.
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 402–423
    Marcel hat bereits » einen Eindruck davon bekommen, in welchem Maße die Frauen auf Männer, mit denen sie leben, verfeinernd einwirken können «. Auch die Großmutter erkannte Monsieur de Charlus » ein geradezu weibliches Zartgefühl zu, […] den tiefgehenden Einfluß einer Frau, seiner Mutter oder später vielleicht einer Tochter «. Wenn ich mein Zartgefühl mit dem meiner Tochter vergleiche, dann bin eher ich dafür zuständig, ihr etwas von der » Empfänglichkeit der Frau « zu vermitteln. Jedenfalls schubse ich Gleichaltrige, die ich gern habe, nicht einfach um, nachdem ich sie umarmt habe. Und ich bin froh, daß große Frauen nicht mehr einpullern, um auf sich aufmerksam zu machen.
    Weil Saint-Loup die Traurigkeit erwähnt, die Marcel » oft des Abends vor dem Einschlafen befiel «, klopft Charlus noch einmal bei ihm an, um ihm ein neues Werk von Bergotte zu borgen. Marcel ist hocherfreut, er hatte schon Angst gehabt, auf Charlus einfältig gewirkt zu haben: » Aber nicht doch, antwortete er in weit sanfterem Ton. Sie besitzen vielleicht keinerlei persönliches Verdienst, wie wenige haben es! Aber für eine Zeit noch haben Sie jedenfalls Ihre Jugend, und von ihr geht immer ein Zauber aus. « Bei nächster Gelegenheit zwickt er ihn am Strand » plump vertraulich in den Hals «, um eine ironische Bemerkung über Marcels Großmutter zu machen. Marcel sagt darauf: » Monsieur, ich liebe und verehre sie!
    – Monsieur, sagte er, einen Schritt zurücktretend, mit plötzlich eisiger Miene, Sie sind noch jung und sollten die Gelegenheit nutzen, zwei Dinge zu lernen: erstens sollten Sie sich enthalten, Gefühle zu äußern, die zu natürlich sind, um nicht zur Mißdeutung Anlaß zu geben; zweitens sollten Sie nicht so hitzig auf Dinge reagieren, deren tieferen Sinn Sie noch nicht begriffen haben. Hätten Sie diese Vorsicht nicht soeben versäumt, so würden Sie vermieden haben, kopflos wie jemand, der nichts hört, draufloszureden und dadurch eine weitere Lächerlichkeit zu der hinzuzufügen, die darin besteht, mit gestickten Ankern auf dem Badeanzug herumzulaufen. Ich habe Ihnen ein Buch von Bergotte geliehen, das ich dringend brauche. Lassen Sie es mir in einer Stunde durch den Oberkellner mit dem lächerlichen und außerdem noch zu Unrecht getragenen Vornamen bringen [Aimé], den Oberkellner, der, wie ich wohl vermuten darf, um diese Zeit nicht schläft. Sie erinnern mich noch daran, daß ich gestern etwas voreilig über den Zauber der Jugend zu Ihnen gesprochen habe; ich hätte Ihnen einen besseren Dienst damit erwiesen, hätte ich Sie auf das Ungestüm, die Plan- und Verständnislosigkeit dieser Lebensepoche aufmerksam gemacht. Ich hoffe, junger Mann, diese kleine Dusche wird Ihnen nicht minder guttun als Ihr Morgenbad. Aber stehen Sie doch nicht wie angewurzelt da, Sie könnten sich erkälten. Ich empfehle mich. « Eine interessante Persönlichkeit, die so zwischen Liebenswürdigkeit und Schroffheit wechselt. Außerdem hätten wir, wenn Charlus es nicht ausgeplaudert hätte, nie erfahren, daß Marcel mit einem Badeanzug ins Wasser zu steigen pflegt, auf den ein Anker gestickt ist.
    Schließlich brüstet sich Bloch damit, Odette, deren Namen er gar nicht kennt, im Pariser Vorortzug getroffen zu haben, wo sie ihm » ihre Gunst geschenkt « habe. Sie habe sich ihm » dreimal hintereinander, und zwar auf die raffinierteste Art « hingegeben. Und jetzt wünscht er von Marcel » in den Besitz ihrer Adresse zu kommen und so bei ihr ein paarmal in der Woche die Freuden des von den Göttern geliebten Eros zu genießen «. Was für ein Widerling, sich an Odette zu vergreifen! Und man kann nichts dagegen tun, weil das Buch schon gedruckt ist!
    45. Do, 31.8., Berlin
    Ein tröstliches Gefühl, zu lesen, was man selbst denkt, auch wenn man sich dann auf dem Niveau von Zeitungslesern befindet, die ein bestimmtes Blatt abonnieren, weil sie darin ihre eigene Meinung finden. Eine Voraussetzung, sich so mit dem Geschriebenen zu identifizieren, ist für mich, daß der Autor tot ist, und er, wie großartig er auch war, rein biologisch ein Vorläufer bleibt. Aber warum fühlt man sich bestätigt, wenn ein Autor – also auch nur ein

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