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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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einen anderen Weg.« Wenn ich mich jetzt deswegen umbringen soll, ist natürlich die Frage, ob ich mein Fahrrad in der Zeit angeschlossen lasse, und wenn nicht, wie ich dann mein Bügelschloß am Rahmen befestige.
    43. Di, 29.8., Berlin
    Wenn man immer elitärer wird, liegt das nicht an einem selbst, sondern an den Mitmenschen, die sich disqualifizieren. Gestern las ich in einer Musikzeitschrift ein Gespräch mit einem deutschen Nachwuchssänger, in dem dieser behauptet, das Wort »deutsch« stamme aus dem Polnischen und bedeute »stumm«. Da hat er wohl etwas verwechselt. Man kann nicht alles wissen, aber wegen solcher Eindrücke ist es mir unangenehm, aus den Proust-Notizen vorzulesen, weil man das Gefühl hat, die Menschen schon zu belästigen, wenn man einen Satz mit Nebensätzen zitiert. Eigentlich schon, wenn man einen Autor erwähnt, den nicht jeder kennt. Irgendwann wird mich die Anstrengung aber überfordern, die man aufbringen muß, um nicht elitär zu wirken.
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 380–402
    Bloch taucht wieder auf, er macht keine sympathische Figur. Er stammt aus einfachem Haus: » Um durch Emporarbeiten von einer jüdischen Familie zur anderen nach oben vorzudringen, hätte es für Bloch einer Spanne von mehreren Jahrtausenden bedurft. « Und er sucht nach einer Abkürzung. Aber Marcel kann ihn deswegen nicht verurteilen, » denn ich hatte von meiner Mutter und Großmutter die Eigenschaft geerbt, unfähig zum Groll zu sein «.
    Der Baron von Guermantes, auch Baron de Charlus, ein Onkel von Saint-Loup, kommt nach Balbec, um seinen Neffen dort zu besuchen. » Auf Grund seiner Leidenschaft für körperliche Übungen « kommt er gewandert. » Er selbst sprang nach seinen Fußwanderungen, nach stundenlangen Läufen, noch glühend erhitzt in einen eisigen Fluß. « In seiner Jugend war er einmal » tonangebend « in der Gesellschaft gewesen, wie Saint-Loup zu berichten weiß: » Ob er zum Kuchenessen anstatt eines Löffels eine Gabel benutzte oder ein selbsterfundenes Eßgerät, das er für seinen persönlichen Gebrauch bei einem Goldschmied hatte herstellen lassen, es war von dem Augenblick an nicht mehr erlaubt, anderes zu verwenden. «
    Auch Charlus ist ein Ästhet, also jemand, der die Dinge dann genießt, wenn sie auf anderes verweisen. Zum Beispiel empfindet er Vergnügen an der Gesellschaft von Frauen, » deren Ahninnen zweihundert Jahre früher Trägerinnen des Glanzes und der Eleganz des Ancien régime gewesen waren «. Bei seiner Bewunderung spielen » zahllose historische und künstlerische Erinnerungen, die mit ihren Namen verknüpft waren « eine große Rolle, » so wie die Vorliebe für das Altertum das große Vergnügen erklärt, das ein Kenner bei der Lektüre einer Horazischen Ode verspürt, die vielleicht weniger wertvoll ist als ein Gedicht unserer Tage, das diesen Humanisten am Ende kaltlassen würde «.
    Zwar lädt der Baron Marcel und seine Großmutter zum Tee bei der Madame de Villeparisis ein, seiner Tante, aber er schenkt ihm dort keine Beachtung. Eigenartig, wie oft Marcel das passiert. Der Mutter muß listig ein Gutenachtkuß abgetrotzt werden, Saint-Loup scheint erst arrogant, ist dann aber sofort ein Freund fürs Leben, die Berma soll für ihn alleine spielen, der Hoteldirektor und die Gäste ignorieren ihn, Gilberte muß nur einmal größere Lust auf einen Tanzabend als auf den täglichen Tee mit ihm verspüren, damit er ihr grimmig entsagt (nicht ohne ihr Briefe zu schreiben). Am Ende muß man ein Buch schreiben, um endlich beachtet zu werden.
    44. Mi, 30.8., Berlin
    Die scheinbare Lückenlosigkeit des Berichts, was im Buch nicht vorkommt, ist auch nicht erwähnenswert. Indem Proust sich jedem Detail so liebevoll widmet, als wolle er beweisen, daß es in seinem Leben nichts Nebensächliches gab, suggeriert er auch, nichts ausgelassen zu haben. Ein Stück Teegebäck wird zum Emblem einer ganzen Poetik, und die Erzählung ist ein gleichbleibend mächtiger Strom, nur manchmal setzt er eine plötzliche Pointe. Immerhin wird das Wesen eines Menschen in seinen unkontrollierten Erinnerungsschüben, in den sozialen Ängsten und übertriebenen Sehnsüchten gesehen und nicht in irgendwelchen Leistungen. Ich kann für Menschen erst etwas empfinden, wenn sie etwas preisgegeben haben, was sie an sich nicht verstehen, eine eigenartige Kindheitserinnerung, einen peinlichen Tick, einen lächerlichen Wunsch. Wie bringt man sie dazu? Wenn ich für die Zeitung Nachrufe schreibe,

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