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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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weil das, was mein Leben gewesen war, auf einmal aufgehört hatte, mein ganzes Leben zu sein, vielmehr nur noch ein kleiner Teil der vor mir liegenden Weite war, die zu durchmessen ich brennend wünschte, die aus dem Leben dieser Mädchen bestand und jene Fortsetzung und vielleicht sogar Mehrung des eigenen Ich verhieß, die wir als Glück bezeichnen. «
    Mehrung des Ichs, Gier auf fremde Existenzen, vielleicht sogar Sprache. Ihr wichtig sein, vielleicht sogar, ohne daß sie es weiß, weil sie einen nicht erkennen würde, aber gelesen hat. Man muß nur das Geheimnis um seine Identität lüften, und sie wird vor Scham erröten. Dann kann man gelassen das Weite suchen und sie in ihren reuevollen Gedanken sich selbst überlassen.
    » Und doch, die Vorstellung, ich könne eines Tages der Freund der einen oder anderen dieser jungen Personen werden, diese Augen, deren mir fremde Blicke mich manchmal trafen, wenn sie gedankenlos über mich hinspielten wie ein Sonnenreflex auf einer Mauer, könnten jemals infolge einer ans Wunderbare grenzenden Alchimie in ihre unaussprechlichen Parzellen eine Idee von meinem Vorhandensein eindringen lassen, ja etwas wie Freundschaft für meine Person, ich selbst könne eines Tages meinen Platz unter ihnen haben in diesem festlichen Zuge, den sie am Meeresufer vollführten – diese Vorstellung schien mir einen so unlöslichen Widerspruch in sich selbst zu enthalten, als wenn ich vor einem attischen Fries oder einem Fresko, auf dem ein Festzug dargestellt war, auf den Gedanken käme, ich, der Zuschauer, könne, von jenen Gestalten geliebt, unter den göttlich Dahinwallenden einen Platz einnehmen. « Und anders als bei den Frauen, die er vom Wagen aus nur flüchtig sieht und deshalb begehrt, gehen diese Mädchen ja ganz langsam an ihm vorbei. Deshalb muß er nicht fürchten, daß, aus der Nähe betrachtet, » ein Mangel in der Zeichnung der Nasenflügel « der Frau ihren Reiz nehmen könnte.
    Was tut man, wenn man noch zu jung ist zu sterben, aber trotzdem schon weiß, daß man ein bestimmtes Glück nie erleben wird? Marcel geht zurück ins Hotel und legt sich eine Stunde aufs Bett, » eine Form der Siesta, die ich auf ärztliches Geheiß bald auch auf alle anderen Nachmittage ausdehnen mußte «.
    Unklares Inventar:
    – Pennsylvaniarosen.
    Verlorene Praxis:
    – Nicht ohne seine Hänflinge und Papageien verreisen.
    46. Fr, 1.9., Berlin
    Das Sich-Umschleichen auf Partys. Ein flüchtiger Blick ins Wohnzimmer, und man meint schon zu wissen, daß alle anderen oberflächlich sind. Trauben von Männern nehmen die wenigen Frauen in ihre Mitte wie der Bienenschwarm die Königin. Manchmal löst sich einer, aber die freigewordene Stelle wird sofort von einem anderen besetzt. In der Küche sind die, die auch keinen kennen. Während eine Wuppertalerin aufzählt, welche Prominenten aus ihrer Heimatstadt stammen, aus der man nur fliehen könne – nach jedem Namen staunt man gemeinsam, daß es möglich ist, bei einer solchen Herkunft doch noch etwas zu werden –, betrachtet man das hinter ihr an der Wand hängende Plakat, das Bilder aus einem Costa-Gavras-Film über Folter zeigt. Drei Frauen besprechen einen Film über einen Vergewaltiger, der dauere zwar drei Stunden, gehe einem aber »noch lange nach«, obwohl er »gar nicht so nah bei den Figuren« sei, wie es scheine. Aber wichtig sei, »daß er einlöst, was er sich vorgenommen hat«.
    Alle Gäste schreiben Drehbücher, arbeiten aber im Moment für Fernseh-Soaps. Die Regisseure suchen noch nach der Finanzierung für das Projekt, mit dem sie das Geld verdienen wollen, um das Projekt zu finanzieren, an dem sie eigentlich arbeiten. Nach zehn Minuten möchte man gehen.
    Der Sänger einer Rockband, die man als Jugendlicher gehört hat, ist auch gekommen. Ob es ihn beleidigt, immer auf seine früheren Leistungen angesprochen zu werden? Oder fühlt er sich schon so vergessen, daß es ihn wieder freuen würde? Im Kopf sagt man sich seine Songtexte auf, man kennt sie noch auswendig. Er schleicht an einem vorbei und scheint nicht so sehr zu überlegen, ob er einen kennt, sondern ob man ihn kennt. Zum Glück ist man nicht nicht mehr berühmt, sondern einfach nicht berühmt.
    Wohnungen, in denen die Bücher in den Flur verbannt wurden.
    Nach drei Stunden ist man immerhin so weit, daß man den Moment abpassen muß, heimlich zu verschwinden, bis dahin wäre das sowieso unbemerkt geblieben. Es müßte doch jede Gesellschaft in Unruhe versetzen, wenn man nicht

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