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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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und tagsüber ausgekostet hat, als bedrückend empfindet.
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 360–380
    Madame de Villeparisis kündigt das Eintreffen ihres Neffen an, des Marquis de Saint-Loup-en-Bray. Sofort phantasiert Marcel, » schon stellte ich mir vor, er werde von Sympathie für mich erfüllt, ich werde sein bevorzugter Freund sein, und als vor seinem Eintreffen noch seine Tante meiner Großmutter zu verstehen gab, er sei unglücklicherweise einer übeln Person in die Hände gefallen, auf die er ganz versessen sei und die ihn nicht loslassen wolle, dachte ich, überzeugt, daß eine solche Art von Liebe schicksalhaft mit Geisteskrankheit, Verbrechen und Selbstmord enden müsse, an die kurze Zeit, welche unserer Freundschaft, die in meinem Herzen schon so großgeworden war, bevor ich ihn überhaupt kannte, noch vergönnt sein werde, und beweinte die Freundschaft bereits «. Eine beunruhigende Marotte, sich in seiner Phantasie Unbekannte einzuverleiben. Irgendwann kann man dann nicht mehr unterscheiden, was sie wirklich gesagt haben und was man sich nur vorgestellt hat. Aber was ist schon wirklich?
    Saint-Loup » durchmaß schnell das Hotel in seiner ganzen Breite, wobei er seinem Monokel nachzulaufen schien, das wie ein Schmetterling vor ihm herflatterte «. Aber er ignoriert Marcel zunächst völlig, der seinerseits schon den Aristokraten in ihm bewundert. Er ergreift » mit der Eleganz und Meisterschaft, die ein großer Pianist an den einfachsten Stellen geltend zu machen weiß, bei denen man es für unmöglich gehalten hätte, man könne sich in ihnen einem zweitrangigen Virtuosen überlegen zeigen, die Zügel, die der Kutscher ihm in die Hände gab, ließ sich neben ihm nieder und trieb, während er einen Brief öffnete, den der Direktor ihm überreichte, seine Pferde an «. Nicht wie wir, die wir gerade an den einfachsten Stellen im Leben zu stolpern pflegen.
    Ist Saint-Loup wirklich so arrogant, oder übertreibt Marcel schon wieder, weil er zuviel reflektiert? Er ist in einem seltsamen Alter: » Ganz von Ungeheuern und Göttern umringt, kennt man fast keine Ruhe. Man führt in diesen Jahren beinahe keine Geste aus, die man nicht nachher gern zurücknehmen möchte. Aber man sollte statt dessen gerade bedauern, daß man die Spontaneität nicht mehr besitzt, die sie uns ausführen ließ. Später sieht man die Dinge auf eine praktischere Art in ganz der gleichen Weise wie die übrige Gesellschaft an, die Jugend aber ist die einzige Zeit, in der man etwas lernt. «
    Plötzlich und ohne Kommentar sind Saint-Loup und Marcel schon » Freunde fürs Leben geworden «, was ihn nun wieder traurig stimmt, denn: » War ich allein, so fühlte ich manchmal aus den Tiefen meines Innern Eindrücke aufsteigen, die mir ein köstliches Wohlgefühl gaben. Aber sobald ich mich in Gesellschaft eines andern befand, sobald ich zu einem Freunde sprach, vollzog mein Geist eine Wendung und lenkte meine Gedanken nunmehr auf jenen anderen und nicht mehr auf mich; wenn sie aber in dieser Richtung verliefen, verschafften sie mir keine Freude mehr. «
    Er bewundert etwas Unbewußtes an Saint-Loup, » nämlich den Aristokraten, der wie ein Geist im Innern seine Glieder lenkte, seine Gebärden und Handlungen entscheidend dirigierte «. In seinen Bewegungen erkennt er » die ererbte Gelenkigkeit der großen Jäger wieder «. Er ist ein Kulturprodukt.
    » Übrigens kommt es darauf gar nicht an «, eine Floskel, mit der man jemanden beruhigt, der einem einen Wunsch nicht erfüllen kann. » ›Gut, gut, es ist natürlich nicht wichtig, ich finde schon einen anderen Weg‹, wobei dieser andere Weg, auf welchen angewiesen zu sein so gar nicht wichtig ist, häufig der Selbstmord ist. « Genau das ist mir gerade wieder passiert, als ich beim Fahrradhändler nach einem Halter für mein Bügelschloß gefragt habe, der alte war nach Jahren kaputtgegangen. Solche Halter würden nicht mehr hergestellt oder nicht separat verkauft, hieß es. Mir ist es ja immer peinlich, wenn mir jemand einen Wunsch nicht erfüllen kann, man will ja niemandem zur Last fallen. Hätte ich geahnt, daß der Fahrradhändler keine Bügelschloßhalter führt, hätte ich ihn nie danach gefragt. Er drehte sich nach seinen Schubladen um, als hoffe er, dort zufällig doch noch einen Bügelschloßhalter zu entdecken, aber es war nur eine Verlegenheitsgeste, eigentlich wollte er sich von mir abwenden. Ich beruhigte ihn: »Gut, gut, es ist natürlich nicht wichtig, ich finde schon

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