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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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warme Balkonwand, unten auf dem Platz schreien sich heisere Betrunkene an, am Horizont » entfalten sich des Abends für Augenblicke himmlische Blumengebinde in Rosa und in Blau, die ganz unvergleichlich sind und oft Stunden brauchen, um endlich zu verwelken «. Die Zwangsvorstellung, vom Balkon zu springen. Mal sieht man sich sitzend wie im Schwimmbad von der Kante plumpsen, mal wie beim Hochsprung elegant über die Brüstung rollen.
    In Swanns Welt, S. 146–167
    Marcel betrachtet sehr konzentriert einen Weißdornbusch. Sein Großvater schenkt ihm » die Freude, die wir empfinden, wenn wir auf ein Werk unseres Lieblingsmalers stoßen, das von den uns bekannten ganz verschieden ist «, indem er ihn auf ein paar rosa Blüten hinweist. Denn es gibt auch in der Natur eine Hierarchie von Erlesenheit, wie bei der Pâtisserie von Camus, wo die mit rosa Guß teurer ist.
    Durch die Hecke sieht er ein Mädchen mit einer Gartenschaufel in der Hand, in dessen azurblaue Augen er sich sofort verliebt, gerade weil sie in Wirklichkeit schwarz sind. Aber er versteht es » damals sowenig wie später einen starken Eindruck in seine einzelnen Elemente zu zerlegen «, weshalb er sich die Augenfarbe in der Erinnerung dazudenken muß, und so sind ihre Augen eben in seinen Augen blau.
    » Ich fand sie so schön, daß ich gern noch einmal umgekehrt wäre und ihr achselzuckend zugerufen hätte: ›Ich finde dich häßlich, furchtbar komisch, und es graust mir vor dir! ‹«
    Erfahrungsgemäß führt solches Raffinement bei den wenigsten Frauen zum Erfolg.
    Unklares Inventar:
    – Pâtisserie von Camus.
    Verlorene Praxis:
    – Die Frau beleidigen und ihr Böses zufügen, um ihr die Erinnerung an einen aufzuzwingen.
    9. Mi, 26.7., Berlin
    Der Tag war heiß. Im Sportzeug zum Kindergarten und dann direkt ins Stadion. 50-Runden-Lauf nach der Hälfte abgebrochen. Bei H&M Schlüpfer und Hemden, ein neues Leben in bunt. Eine echte Levi’s. Beim Friseur lasse ich die ältere Dame machen, und nach fast fünfundzwanzig Jahren fällt mir auf, daß mir etwas längere Haare besser stehen als Façon. Am Nachmittag auf dem Spielplatz. M. kommt uns besuchen, mit Motorrad. Sie hat mit allen Affairen Schluß gemacht, weil sie sechs Scheine machen muß.
    Curtius schreibt in seinem Proust-Essay: » Das Leben Marcel Prousts repräsentiert den seltenen Fall einer restlosen Übertragung der Energie von der Praxis in die Poiesis. […] Es ist nicht etwa nur so, daß das Schaffen ihm keine Energie mehr für das Handeln übrigließ; es verhält sich vielmehr so, daß das Handeln und überhaupt das Wollen in der praktischen Sphäre jenes reine Schauen getrübt und eingeengt hätte, das die Voraussetzung seiner Kunst ist. « Mein reines Schauen wurde heute davon getrübt und eingeengt, daß ich einem kleinen Mädchen den Hintern abwischen mußte.
    Übermorgen nach Odessa zum Russischkurs. Vor allem, weil der Name so märchenhaft klingt. Nachdem ich geduldig zwanzig Seiten Proust gelesen habe, geht es mir wie Proust: » Mein so lange zur Unbeweglichkeit verurteilter Körper, der sich mit Unruhe und gestautem Bewegungsdrang aufgeladen hatte, empfand das Bedürfnis, wie ein Kreisel, der endlich aufgesetzt wird, nach allen Seiten zu schnurren. « Dann will ich mal zum Reisebüro schnurren.
    In Swanns Welt, S. 167–190
    Marcel geht allein durch den Wald und erwartet von seinem Schicksal, daß es in jedem Moment ein ländliches Mädchen auftauchen und ihn in die Arme schließen läßt, wobei er betont, daß jene hypothetische Vorübergehende » für mich nicht nur ein beliebiges Exemplar des Gattungsbegriffs ›Frau‹ war, sondern ein notwendiges und natürliches Produkt dieses speziellen Bodens «. In Paris würde ihm dieselbe nämlich fade vorkommen, die Frau muß eine lokale Spezialität sein.
    Weil sich aber auch für einen Proust allein durch Willenskraft keine Frau aus der Landschaft hervorzaubern läßt, schlägt er aus Wut auf die Bäume ein.
    Unklares Inventar:
    – Camaïeumalereien.
    Bewußtseinserweiterndes Bild:
    – » Manchmal zog durch den Nachmittagshimmel schon der noch nebelweiße, heimliche, glanzlose Mond wie eine Schauspielerin, die erst später auftritt und vom Zuschauerraum aus in Straßentoilette einen Augenblick ihren Kollegen zuschaut in dem Bestreben, selbst im Hintergrund zu bleiben und nicht beachtet zu werden. «
    10. Do, 27.7., Berlin
    Lächle auf dem Fahrrad, wegen der Sonne und meiner trotz allem guten Situation. Hannah über einen

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