Schmidt Liest Proust
vor dem Glockenturm stehe, da ich auf dem tiefsten Grund meines Innern wiedereroberte Gebiete spüre, deren Untergrund schon trocken wird und zum Wiederaufbau bereit; sicherlich suche ich dann, viel eifriger als eben noch, da ich ihn um Auskunft bat, meinen Weg, ich biege in eine Straße ein … aber … in meinem Herzen «.
Die hypochondrische Tante wird mir immer sympathischer. Sie verabscheut zwei Sorten Menschen, die einen, die » die umstürzlerische Meinung vertraten, daß ein kleiner Spaziergang in der Sonne oder ein englisches Beefsteak (wo doch schon zwei armselige Schluck Vichywasser sie vierzehn Stunden lang im Magen drückten) ihr sehr viel besser tun würden als das Liegen im Bett und die Medizin «. Noch schlimmer sind aber die anderen, » die so aussahen, als hielten sie sie für weit ernstlicher krank, als sie selber meinte, nämlich so krank, wie sie zu sein behauptete «. Es ist sicher schwer, es sich mit Hypochondern nicht zu verderben: » Meine Tante verlangte gleichzeitig, daß man ihre Lebensweise guthieß, daß man sie um ihrer Leiden willen beklagte und sie dennoch völlig beruhigt in die Zukunft blicken ließ. « Eine Aufgabe für Mütter.
Man könnte eine Liste von Tätigkeiten anlegen, die der Roman archiviert und die aus der Mode gekommen sind: »Verlorene Praxis«.
– Als Dorf-Faktotum von Zeit zu Zeit die Wäsche des Pfarrers ausbessern.
– Als Kutscher den Kammerdiener die Herrschaft fragen lassen, zu welcher Stunde angespannt werden sollte.
5. Sa, 22.7., Alt-Lipchen
Nach langem Zögern nun doch ein Wochenende aufs Dorf gefahren. Meine heutige Madeleine war der Benzingeruch einer alten MZ. Sofort waren einem wieder die heißen Leiber dieser Fahrzeuge präsent, mit denen Vertreter der Dorfjugend von Zeit zu Zeit auf dem Hügel über der Badestelle erschienen, um wie Indianerhäuptlinge zu prüfen, ob die Fremden dort gelagert hatten, und ohne ein Wort wieder wegzuknattern, ein Mysterium für alle nicht in diesen Kult Eingeweihten. Es war paradox, sie brauchten schnelle Fahrzeuge, weil sie nichts mit sich anzufangen wußten. Um ihre Zeit totzuschlagen, nahmen sie Geschwindigkeit auf.
In Swanns Welt, S. 85–105
Marcel zieht sich zum Lesen von Abenteuerromanen zurück. Der Reiz des Stubenhockens: » Die dunkle Kühle meines Zimmers […] schenkte mir in der Phantasie das volle Schauspiel des Sommers, von dem meine Sinne auf einem Spaziergang zum Beispiel nur jeweils Teilaspekte hätten genießen können; dadurch paßte sie so gut zu meiner Art von Ruhe, die (dank den in meinen Büchern erzählten, mich im Innern bewegenden Abenteuern) wie eine Hand, die man regungslos in fließendes Wasser hält, den tobenden Anprall eines Stromes von lebhafter Handlung aushielt. «
Die verschiedenen Bewußtseinsschichten während der Lektüre, bis hin zum » Behagen, angenehm zu sitzen «. Letztlich wecke Literatur eher als die Wirklichkeit Mitgefühl mit den Menschen.
Bewußtseinserweiterndes Bild:
– Wenn Giottos »Caritas« » Gott ihr Herz in Flammen darbietet, so reicht sie es ihm eigentlich in der Weise heraus, wie eine Köchin einen Korkenzieher aus dem Kellerfenster jemandem hinhält, der, am Parterrefenster stehend, ihn von ihr haben will «.
Verlorene Praxis:
– Als Kokotte » in das rauhe, immer etwas plump gebliebene Leben der Männer etwas wie kostbare Edelsteine einlassen «.
– Jemandem ein » bleu « schicken.
6. So, 23.7., Alt-Lipchen
Heute habe ich einen Brief gelesen, den die erste Besitzerin des Hauses, in dem ich zur Zeit bin, 1917 geschrieben hat (zwei Jahre bevor Band 2 der »Recherche« erscheint). Sie schildert einem Onkel ihre Pläne für den Garten und das Haus, das sie erst noch bauen muß. Sie wolle Arbeit und Leben verbinden, schreibt sie (sie hatte als einziger weiblicher Lehrling in einer Baumschule gelernt). Der Garten unterteilt sich in Nutz-, Muße- und Natursphären. Das Haus ist so geschickt gebaut, daß man immer eine kühle Ecke findet, und jeder Gegenstand steht seit mindestens achtzig Jahren am selben Platz (das ist eigentlich auch der einzige Zweck, den Gegenstände haben). Man müßte hören können, was die Menschen auf den Fotos aus der Zwischenkriegszeit reden, die man hier in den Alben findet. Unmöglich, sich in sie hineinzuversetzen. Von uns wird es in achtzig Jahren unendlich viel Videomaterial geben, was bedeutet das für die Literatur?
In Swanns Welt, S. 105–126
Mehr über Bloch, der einmal, als er regennaß eintrifft, auf die
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