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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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nicht da «.
    2. Mi, 19.7., Berlin
    In Swanns Welt, S. 22–43
    Schon am zweiten Tag Zweifel am Unternehmen. Der Anachronismus, solche Textmassen zu bewältigen. Draußen 37 Grad, und man kann es sich nicht schönreden, daß man nicht wie die anderen Kinder spielt, statt hier zu hocken und zu lesen, was ein anderer über die Sommer seiner Kindheit schreibt. Außerdem kommt das Ganze schwer in Gang. Tanten und Großtanten beim Mokka-Pistazie-Eis, man weiß noch nicht, ob es sich lohnt, sich ihre Namen zu merken. Die Tanten kommen nicht gut weg: » Ihre innere Anteilnahme an allem, was mehr oder weniger dem Weltleben verhaftet blieb, war so gering, daß ihr Gehörsinn – als er schließlich seine vorübergehende Entbehrlichkeit begriffen hatte, sobald nämlich bei Tisch die Unterhaltung in einen frivolen oder auch nur banalen Ton verfiel, ohne daß es den beiden alten Damen gelungen wäre, sie wieder auf Gegenstände zu lenken, die ihnen am Herzen lagen – seine Aufnahmeorgane abstellte und sie geradezu einer beginnenden Atropie überließ. « Ich werde in Zukunft auch meine Aufnahmeorgane abstellen, wenn das Gespräch am Tisch unter mein Niveau sinkt. Die Frage ist, ob ich das überhaupt beurteilen kann.
    Leise sagt der Vater zur Mutter: » Wie heißt doch der Vers, den ich von dir gelernt habe und der mir in solchen Augenblicken immer eine so große Erleichterung verschafft? « Dafür heiratet man, damit einem jemand solche Fragen beantwortet.
    Marcel ist » nervös « und beschließt, wach zu bleiben, um seiner Mutter einen Gute-Nacht-Kuß abzutrotzen, die Strafe könnte darin bestehen, vom Vater in ein Internat gesteckt zu werden. Für ihn sicher ein Todesurteil.
    3. Do, 20.7., Berlin
    In Swanns Welt, S. 44–65
    Als Proust sich eine Seite nimmt, um das Aussehen der getrockneten Lindenblüten zu beschreiben, die seine Tante sich zum Tee aufzugießen pflegt, überlege ich zum ersten Mal, ob ich ein paar Zeilen überspringe. Aber das geht nicht, es ist möglicherweise das letzte Mal in meinem Leben, daß ich »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« lese, da muß ich es auch richtig tun. Ich habe auch die drei Seiten über den Klang durchgestanden, den die Stimme seiner Mutter beim Vorlesen hatte. Bei der Tour de France kann man auch nicht einfach ein Teilstück auslassen. Seine Mutter pflegte also Liebesszenen heimlich zu überspringen. Woher weiß er das? Sollte man seine alten Kinderbücher noch einmal lesen, um zu prüfen, ob einem die Eltern beim Vorlesen frivole Stellen unterschlagen haben?
    Die dicken, ovalen Sandtörtchen, die man »Petites Madeleines« nennt, haben ihren Auftritt. Mit dem Geschmack des Lindenblütentees sorgen sie dafür, daß Marcel spürt, wie etwas in ihm » in großer Tiefe den Anker gelichtet hat «. Diesem so intensiven wie flüchtigen Erinnerungsschock forscht er in seinem Bewußtsein nach und fördert vermutlich das ganze nächste Kapitel zutage, wenn nicht sogar die restlichen sieben Bände. Wenn die Menschen tot sind, werden » Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen «.
    Mit der Madeleine ist es allerdings wie mit der Mona Lisa, weil man so viel darüber gehört hat, enttäuscht sie einen fast zwangsläufig.
    Erfrischend dagegen die kleinen Taktlosigkeiten, etwa, wenn es von der Tante heißt: » Sie sprach immer nur gedämpft, denn sie glaubte in ihrem Kopf etwas Zerbrochenes und Gelockertes zu verschieben, wenn sie die Stimme zu sehr erhob. «
    4. Fr, 21.7., Alt-Lipchen
    In Swanns Welt, S. 65–85
    » Wie liebte ich diese Kirche und wie deutlich sehe ich sie noch vor mir! « Hätte ich die folgenden zehn Seiten gewissenhaft gelesen, würde ich das vielleicht auch tun. Und das nach der Erfindung der Fotografie! Wenn ich die Energie hätte, würde ich die Konsum-Kaufhalle in Berlin-Buch genauso ausführlich beschreiben, aber ich bezweifle, daß sich dafür ein Verlag fände.
    Der Glockenturm von Saint-Hilaire, die zweite Madeleine, überall begegnet er Marcel wieder. Wenn er in einer Provinzstadt oder in Paris nach dem Weg fragt und jemand zur Orientierung auf irgendeinen Turm in der Ferne weist, so wird er » mit Staunen bemerken, wie ich in völligem Vergessen des geplanten Spaziergangs, der dringenden Besorgung stundenlang unbeweglich im Bemühen des Erinnerns

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