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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Freud-Ausstellung neulich.
    Die Marotte, an allem, was man aus der Ferne begehrt hatte, herumzumäkeln, sobald es sich einem anbietet, wird noch einmal beschrieben, » es ist eine der seelisch hygienischen Maßnahmen, zwischen denen man zu wählen hat, eine Maßnahme, die vielleicht nicht sehr empfehlenswert ist, die uns aber jedenfalls das Leben in einer gewissen Ruhe verbringen und auch – insofern sie uns gestattet, nichts zu bereuen, da wir ja überzeugt sein können, das Beste erlangt zu haben, nur daß dies Beste eben weiter nichts Besonderes ist – den Tod ertragen läßt «.
    Wer vom Leben nichts erwartet, dem fällt es leichter zu sterben, eine ziemlich resignierte Einsicht. Der Fuchs und die Trauben. Jedenfalls macht mich das jetzt ganz traurig, und ich hoffe, ich lasse mich davon nicht anstecken. Es muß doch auch Dinge geben, die aus der Nähe betrachtet geheimnisvoll und schön bleiben. Zum Beispiel meine neue Adidas-Trainingshose, die mir jetzt schon zu schade zum Trainieren ist. Vielleicht werde ich sie zum Schreiben benutzen, das würde dieser Tätigkeit etwas Sportives geben.
    Unklares Inventar:
    – Zyklamen.
    Verlorene Praxis:
    – Im Hotel ungeduldig werden, weil einem seine Sachen noch nicht gebracht worden sind, so daß man sich nicht anziehen kann.

3. Buch
Die Welt der Guermantes
    55 . Di, 12.9., Berlin, Sonne, sommerlich warm
    Am Beginn des neuen Bands ist es, als sei der Autor verreist gewesen, man fragt sich, was den Raum zwischen den beiden Bänden füllt. Ich habe bei »Star Trek« lange die Kunst der Pause bewundert, wenn die Musik anschwillt und die Handlung nach einem Schnitt an derselben Stelle weitergeht. Das hatte immer etwas Erfrischendes, dabei war der Grund, daß im amerikanischen Fernsehen an diesen Stellen Werbung läuft.
    Es zwingt einen keiner, zwischen zwei Bänden eine Pause zu machen, und trotzdem verändert die Tatsache, daß ein Buch beendet und ein anderes begonnen wurde, das Lesegefühl. Es gibt die narrative Pause, die Zeit, die innerhalb der Erzählung vergangen ist – vielleicht ja gar keine –, und es gibt meine Pause, ich kann ja ein Jahr warten, bis ich weiterlese. Wie beim Videogucken kann ich das Tempo selbst bestimmen. Man könnte sogar versuchen, das Buch genau parallel zur Erzählzeit zu lesen, also an Stellen, wo steht: »Zwei Monate darauf …«, zwei Monate warten. Wenn man das dann als Performance bezeichnen würde, bliebe nur noch die Frage, ob man dafür in die Künstlersozialkasse kommt.
    Ein feierliches Gefühl, den neuen Band zu beginnen, was wird man in der Zeit der Lektüre erleben? Wie früher am ersten Schultag nach den Ferien das neue Hausaufgabenheft. Ich habe immer zufällig irgendwo einen Strich gemacht, um mich, wenn ich im Lauf des Jahres darauf stoßen würde, an den Moment zu erinnern, als ich den Strich gemacht hatte. Vielleicht sollte ich wieder mit Hausaufgabenheften arbeiten. Manchmal verdeckte man einen Tag mit einem Zettel und schob ihn dann Zeile für Zeile nach unten in der Hoffnung, darunter keine Aufgabe zu finden. Es gab wenige solcher Tage, an denen nichts zu tun war. Das Ziel im Leben war immer, die Anzahl dieser Tage zu erhöhen.
    Der dritte Teil der »Recherche« wird mich jetzt mindestens einen Monat begleiten. Den letzten habe ich begonnen, als ich aus Odessa wiedergekommen bin, was natürlich schon wieder wie in einem anderen Leben war. Noch eine Stadt mehr, bei der ich in Zukunft auf die Wetterkarte in der Zeitung gucke, ob es dort regnet. Und wenn man jemanden trifft, der auch schon einmal dort war, kann man eines dieser unbefriedigenden Gespräche führen, bei denen man nur Stichworte austauscht, ohne sich wirklich zu unterhalten.
    Die Welt der Guermantes, S. 1–28
    Die Familie ist umgezogen, weg aus dem 6. Arrondissement. Ich war nur einmal drei Tage in Paris, nachdem ich ja meine ganze Jugend über gedacht hatte, Paris sei das wichtigste Reiseziel, das einem verwehrt wurde. Ich habe aber immer noch niemanden kennengelernt, der dort lebt und mich einladen könnte, und ich finde, Paris ist es mir schuldig, mich wie einen Gast zu behandeln und nicht wie einen Touristen. Von meinem einzigen Aufenthalt erinnere ich mich an ein Restaurant mit einem Aquarium vor der Tür. Den Hummern waren die Scheren verbunden, damit sie sich nicht zerfetzten. Es sah in Paris eigentlich aus wie überall in Frankreich, das Land ist ja im öffentlichen Bereich so standardisiert wie die DDR. Der kurze Besuch hat nicht gereicht, um ein

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