Schmidt Liest Proust
schwierigste Teil des Kennenlernens ist für mich immer herauszufinden, was dem anderen wichtig ist und was seine Überzeugungen sind, damit ich behaupten kann, was er gerne hört.
Eine Würdigung der Bedeutung der menschlichen Stimme: » Der Liebhaber junger Mädchen weiß, daß menschliche Stimmen noch sehr viel variantenreicher sind [als Vogellaute]. Jede besitzt mehr Noten als das klangvollste Instrument. […] Die Züge unseres Gesichts sind eigentlich nichts anderes als bestimmte, durch Gewohnheit festgewordene Gebärden […]. Ebenso enthält der Tonfall unserer Stimme unsere Lebensphilosophie, das, was der betreffende Mensch sich selbst bei jeder Gelegenheit über die Dinge wiederholt. « Dazu kommt der Einfluß der Familie, von der man eine bestimmte Art zu sprechen übernimmt, nicht nur Formeln, sondern auch den Tonfall. Sogar die Verästelung in Cousins und Cousinen bringt gemeinsame Diktionen hervor. Und dazu kommt die Herkunftsregion. Damit verhält es sich wie mit jedem künstlerischen Ausgangsmaterial. Denn das Werk spiegelt » selbst die feinsten Züge der Persönlichkeit des Künstlers wider, weil dieser genötigt war, mit dem Mühlenkalkstein von Senlis oder dem roten Sandstein von Straßburg zu arbeiten, weil er die Eigenmaserung der Esche berücksichtigen oder bei der Aufzeichnung seiner Noten den Umfang, die Klangfarbe und die Möglichkeiten von Flöte und Bratsche bedenken muß «.
Aber in welches der Mädchen soll er sich verlieben? Warum in Albertine und nicht in die kluge Andrée? Verliebtheit empfindet er ja für alle. Jedesmal staunt er über ihre Gegenwart. Jedes ist eigentlich » eine ganze Traube von Gesichtern «. Jede Begegnung mit einem Gesicht wirkt » als eine Berichtigung, die uns zu dem zurückführt, was wir schon vorher gesehen haben. Wir erinnerten uns bereits nicht mehr daran, so daß eigentlich ›ein Wesen sich in Erinnerung rufen‹ in Wirklichkeit ›es vergessen‹ bedeutet «.
Man darf sich den ersten Schock aber nicht zu sehr anmerken lassen. Zum Glück kann man sich ja erst einmal umarmen und sieht dabei über ihre Schulter hinweg, vielleicht der Sitznachbarin aus dem Flugzeug hinterher. Es dauert nicht lange, dann hat man wieder dieselbe Person vor sich, die man kannte.
Allerdings verläuft die Rekonstruktion paradox und schießt immer etwas übers Ziel hinaus. Hatte man die » träumerische Süße « an der Frau vergessen, erstaunt sie einen durch einen anderen Zug, den man dann in der Erinnerung zu stark hervorhebt, um beim nächsten Mal wieder über die träumerische Süße zu staunen. So schwingt das Pendel immer hin und her.
Der Moment, in dem die Verliebtheit in alle Mädchen aus der kleinen Schar in Liebe zu Albertine umschlägt, ist wieder eine Inszenierung von désir triangulaire . Sie spielen »Ringlein, Ringlein, du mußt wandern«, und neben Albertine steht ein junger Mann, der ihre Hände berühren darf. Die sind zwar nicht so schön wie die von Andrée, aber der Mann berührt eben Albertines und nicht Andrées. Außerdem: » Sie gehörte zu den Frauen, deren Hand zu drücken eine so große Freude erweckt, daß man der Kulturentwicklung dankbar ist, weil sie das ›shakehands‹ zu einem erlaubten Akt der Begegnung zwischen jungen Männern und Mädchen gemacht hat. « Leider ist die Kulturentwicklung noch nicht beim Kniestreicheln angekommen.
Mit intrigantem Geschick schafft er es, neben Albertine zu stehen, die ihm zuzwinkert und » ihren streichelnden Finger « unter seinen gleiten läßt. » Mit einem Schlag kristallisierten sich in mir eine Menge bislang verworrener Hoffnungen « – doch gleich darauf benimmt er sich im Spiel so ungeschickt, daß Albertine sich über ihn beschwert und in Zukunft nicht mehr mit ihm spielen will. Die reifere Andrée nutzt den Moment und lockt ihn zu einem Spaziergang, auf dem er einen Weißdornbusch sieht. Er bleibt stehen, um » mit den Blättern des Weißdorns « zu reden, seiner ersten großen Liebe, noch vor Gilberte. Und während sich dieses zarte Gespräch zwischen Marcel und dem Weißdornbusch entwickelt, ziehen wir uns taktvoll zurück.
53 . Sa, 9.9., Berlin
Gestern habe ich zufällig von einem Journalisten erfahren, daß Saint-Loup Gilberte heiraten wird. Bis es im Buch so weit ist, werde ich mich beim Weiterlesen wie Gott fühlen, weil ich das Schicksal der Helden schon kenne. Es wäre aber ein größeres Vergnügen, es noch nicht zu kennen. Warum? In Filmforen wird vor Spoilern gewarnt, und im Leben
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