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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Leuchttürme! » Hätte der Tod mich jetzt ereilt, er wäre mir gleichgültig oder vielmehr unmöglich erschienen, denn das Leben war nicht außerhalb von mir, sondern in meinem Innern. « Man sollte in Flugzeugen immer einen Platz für Verliebte reservieren, um vor dem Absturz sicher zu sein. Vielleicht direkt neben dem Piloten. Den Job kann man natürlich nicht lange machen.
    Verführt von ihrem nackten Hals stürzt sich Marcel auf Albertine, um sie zu küssen, aber sie » schellt mit aller Macht «. Das ist freilich ein Widerspruch zu Blochs Theorie, » man könne alle Frauen haben «. Bei Marcel schwindet dadurch sofort das Interesse an ihrer Person. Der Wunsch, » durch sie in ein sportliches Leben eingeführt zu werden « verfliegt. » [M]eine im Intellekt wurzelnde Neugier darauf, was sie über diese oder jene Dinge denke, überlebte meinen Glauben, ich werde sie küssen können, nicht. « Was soll man auch mit einem Mädchen anfangen, das man nicht küssen darf? Das ist doch so nützlich wie eine Ikone für einen Atheisten.
    Unklares Inventar:
    – Die Tanzfiguren einer Pavane.
    Verlorene Praxis:
    – Mit aller Macht schellen, wenn ein Mann einen küssen will.
    – Dem Koch vom Diener ausrichten lassen, daß die Erbsen nicht zart genug waren.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » Das Golfspiel gewöhnt an einsame Freuden. «
    54 . Mo, 11.9., Berlin
    Auf dem Spielplatz ein altes DDR-Klettergerät, einer dieser Bögen, an deren Unterseite man immer vom einen Ende zum anderen klettern wollte, ohne runterzufallen, was niemand schaffte, weil man nach der Hälfte kopfüber hing. Die vom Greifen glatten Stellen, an denen sich die Farbe gelöst hatte und die sich besonders angenehm anfaßten. Am Abend der Metallgeruch an den Händen. Wenn man stark genug wäre, könnte man so ein Gerüst auch als Griff benutzen, um die Erde wegzuwerfen.
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 612–619 (Schluß)
    Warum nur hat sich Albertine nicht von Marcel küssen lassen? Vielleicht lag es am » Gefühl, mit einem unangenehmen Geruch behaftet zu sein «? Frauen sollten vorsichtig sein, denn wenn ein Mann sie nicht küssen darf, denkt er womöglich, sie hätten Mundgeruch. Oder Albertine fürchtete, sein » Zustand nervöser Schwäche könne sich durch einen Kuß auch auf sie übertragen «. Man weiß ja nicht, was in den Köpfen der Mädchen vorgeht, wenn sie sich so seltsam benehmen. Aber Albertine tröstet ihn, indem sie ihm einen kleinen goldenen Bleistift schenkt. Ein neues Kapitel in der Geschichte des Bleistifts als literarischem Motiv.
    Da Albertine sich so ziert, schwankt er wieder zwischen der ganzen Gruppe, » da ich ihnen allen ja eine Art von kollektiver Liebe widmete, wie der Politiker oder Schauspieler sie für das Publikum hat, über dessen Treulosigkeit er sich nie trösten kann, nachdem es ihm einmal seine Gunst schenkt «. Warum nicht lieber Andrée? Sie ist » zu intellektuell, zu nervös, zu kränklich, zu sehr wie ich selbst «. Denn Andrée gehört zwar zur kleinen Schar, die ja immer Golf spielt und Rad fährt, aber sie gesteht ihm, sie nutze Sport nur » als Mittel gegen Neurasthenie und Stoffwechselstörungen; ihre schönsten Stunden aber verbringe sie über der Übersetzung eines Romans von George Eliot «. Davon heißt es natürlich die Finger zu lassen.
    Den Schluß des Bands nutzt Proust für einen Rückfall in Wortmalerei, eine zweiseitige Hommage an Albertines Teint. Etwas verkürzt gesagt, sind ihre Wangen » matt getönt … weißes Wachs … schimmerten rosig durch … von einer beweglichen Helligkeit getränkt … die wie flüssig und durchsichtig gewordene Haut … ihr Gesicht … wie das Ei eines Distelfinken … opalfarbenen … polierten Achat … gleich den durchsichtigen Flügeln eines leuchtendblauen Schmetterlings … noch farbiger … rosig nur die Nasenspitze … Wangen wie poliert … rosiges Email … es kam vor, daß die Farbe der Wangen den ins Violette spielenden rosa Ton von Zyklamen hatte … düsteren Purpurton gewisser Rosensorten «.
    Ein Passage, bei der sich die Spreu vom Weizen unter den Lesern trennen dürfte. Man hätte dem Buch ja eine Farbskala beilegen können wie beim Kauf von Gardinen oder Teppichböden, von Weiß bis zu düsterem Purpur. Ich bin mir gar nicht sicher, ob Proust bei Purpurviolett wirklich von Albertines Gesicht spricht, man muß ja bei diesen Schriftstellern auf alles gefaßt sein. Aber vielleicht bin ich auch verdorben von meinem Besuch in der

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