Schmidt Liest Proust
das Haar zu kraulen. Das wäre sicher sehr beruhigend, weil die Finger etwas zu tun hätten, und man wäre nicht so allein.
Die Welt der Guermantes, S. 28–48
Der französische Hochadel ist nicht gerade ein Milieu, an dem großen Anteil zu nehmen ich bisher Wert gelegt hätte. Der dritte Band könnte also eine Prüfung für mich werden. Aber man muß bedeutenden Autoren folgen, egal, wohin sie gehen. Ich habe nie verstanden, wie man, wenn einem ein Buch gefallen hat, nicht bemüht sein kann, alles von diesem Autor zu lesen. Dann könnte der Autor Abonnements auf sein Gesamtwerk verkaufen und bis zu seinem Tod unabhängig von Verlagen arbeiten.
Marcel stellt sich die Welt der Guermantes, die zum höchsten gehören sollen, was es in Frankreich an Adel gibt, einzigartig vor. » Das Leben, das man meiner Vorstellung nach dort führte, entstammte einer von aller Erfahrung so entlegenen Quelle und schien mir etwas so Einzigartiges zu sein, daß ich mir bei den Abendgesellschaften der Herzogin keine Leute denken konnte, die ich auch anderswo schon getroffen hatte, also keine realen Personen. Denn da diese ja nicht mit einem Male eine andere Natur anlegen konnten, hätten sie dort Reden geführt, die ungefähr den mir bekannten glichen; ihre Partner hätten sich am Ende so weit herabgelassen, ihnen in der gleichen menschlichen Sprache Antwort zu erteilen, und es hätte somit auf einer Abendgesellschaft im ersten Salon des Faubourg Saint-Germain Augenblicke gegeben, die aufs Haar von mir bereits durchlebten gleichgewesen wären; das aber konnte nicht sein. «
So etwas Ähnliches habe ich auch schon einmal geschrieben: »Das Leben, das man meiner Vorstellung nach im Westen führte, entstammte einer von aller Erfahrung so entlegenen Quelle und schien mir etwas so Einzigartiges zu sein, daß ich mir beim Abendessen meiner Verwandten keine Leute denken konnte, die ich auch anderswo schon getroffen hatte, also keine realen Personen. Denn da diese ja nicht mit einem Male eine andere Natur anlegen konnten, hätten sie dort Reden geführt, die ungefähr den mir bekannten glichen; ihre Partner hätten sich am Ende so weit herabgelassen, ihnen in der gleichen menschlichen Sprache Antwort zu erteilen, und es hätte somit bei einem Abendessen in Hamburg Augenblicke gegeben, die aufs Haar von mir bereits durchlebten gleichgewesen wären; das aber konnte nicht sein.«
Nach dem Umzug wohnen sie im selben Haus wie Madame de Guermantes, aber sie haben noch keinen Kontakt mit ihr, nur Marcels Mutter hat einmal durch die zufällig geöffnete Tür eine alte Matte liegen sehen. » So nun begnügte ich mich, ehrfürchtig zu erschauern, wenn ich von hoher See aus (ohne Hoffnung, dort je vor Anker zu gehen), wie ein vorgeschobenes Minarett, eine erste Palme, einen Beginn von fremden Industrien oder exotischer Vegetation die abgenutzte Matte am andern Ufer liegen sah. «
Diese Verehrung für den Adel ist dem französischen Volk eingeschrieben, » mit einem gewissen Geist der Auflehnung gemischt «. Françoise, die treue Dienerin, ist ein gutes Beispiel dafür: » Denn Françoise, zu der man von Napoleons Feldherrngenie oder der drahtlosen Telegraphie hätte sprechen können, ohne ihre Aufmerksamkeit zu fesseln und ohne daß sie auch nur einen Augenblick die Bewegung verlangsamt hätte, mit der sie die Asche aus dem Kamin nahm oder den Tisch deckte, brach, wenn ihr solche Besonderheiten zu Ohren kamen, wie daß der jüngste Sohn des Herzogs von Guermantes gewöhnlich Prinz von Oléron hieß, mit einer Miene, als stehe sie verzückt vor der Buntglasmalerei eines Kirchenfensters, in die Worte aus: ›Das ist aber schön!‹«
Ich weiß noch, wie irritiert ich war, als Verwandte uns einmal eine westdeutsche Illustrierte mitbrachten, in der fast nur die Rede von Grafen und Prinzessinnen war. Ich verstand nicht, was einen an diesen Menschen interessieren sollte, die keine Macht mehr hatten, nicht schön waren und dauernd Liebeskummer hatten. In der DDR gab es nur Manfred von Ardenne, und der hatte das Fernsehen erfunden, wofür ich ihm tiefe Dankbarkeit schuldete.
Im Opernhaus, bei einem Galaabend, auf dem auch die Berma auftreten wird, sitzt Marcel im Parkett und bewundert Adlige in dunklen Logen, die ihm wie Meeresgötter erscheinen. Im Märchen sind Prinzessinnen immer schön, aber der wahre Adel ist häßlich. Unsere Zeit, die der Schönheit alles opfert, ist damit eigentlich wieder auf das Märchenniveau herabgesunken. Bei manchen Herzoginnen
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