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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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» wurde einem die Identifizierung durch das Zusammentreffen einer dicken roten Nase mit einer Hasenscharte, oder zweier runzliger Wangen mit einem Schnurrbartanflug ermöglicht «. Diese Eigenheiten sind wie » Schriftzeichen « und » führten auch schließlich dazu, daß Häßlichkeit schlechthin als etwas Aristokratisches erschien «. Ob es reicht, Initiativen zu ergreifen, häßlicher auszusehen, sich zu piercen oder Stiefeletten mit reingesteckten Jeans zu tragen, wenn es alle anderen auch machen?
    Unklares Inventar:
    – Lederpunzarbeiten
    Verlorene Praxis:
    – Sich von seinen Stallburschen ein neues Pferd vorführen lassen.
    – Mit einem freundlich-gutmütigen Lächeln die Tatsache verbergen, » daß die Schwelle des kleinen Sonderuniversums «, das man in sich trägt, » schlechterdings unüberschreitbar « ist.
    – In seinem Bewußtsein nach einem Vers der »Phädra« suchen.
    – Mit einem neuen Gespann seine Mätresse auf den Champs-Elysées treffen.
    – Im Theater nur daran denken, » seine Zufallsnachbarn nicht zu belästigen, sondern für sich einzunehmen «.
    – Nicht ohne eine gewisse Melancholie seine Gleichgültigkeit einer Sache gegenüber feststellen, der man einst seine Gesundheit und Ruhe gerne geopfert hat.
    – Parzellen der Wahrheit in Erzeugnissen der Gobelinkunst ahnen.
    57 . Do, 14.9., Berlin, mittags, Sonne
    Heute habe ich bei der »Chaussee der Enthusiasten« einen neuen Text gelesen, den ich Proust verdanke, auch wenn man das nicht gemerkt haben wird. Es ging um das Minimum an Entgegenkommen, das ausreicht, um zu denken, jemand sei in einen verliebt, wobei man sich dieses Zeichen in der Regel nur einbildet. Mir ging das so im Alter von zwölf Jahren, aber als Proust-Leser wird einem ja irgendwann klar, daß man im Leben nur immer dieselbe Liebesgeschichte wiederholt. Ein kleiner Text voller Wehmut nach einer Zeit, in der man noch nicht wußte, daß man nie weniger Sorgen haben würde, der aber in der Übertreibung der Ungeschicklichkeit des Helden komisch wirkt. Wie alle Texte, die mir gelungen vorkommen, hat er sich von ganz allein geschrieben, er war schon da, ich mußte ihn nur ausformulieren. Das war besonders angenehm, weil ich, durch das Beispiel Prousts ermutigt, mir wieder einmal das Recht genommen habe, eine Kleinigkeit aus dem eigenen Leben so herauszustellen, daß sie etwas Exemplarisches bekommt. Man denkt immer, das Erfahrungsmaterial sei schon erschöpft, dabei hat man noch gar nicht richtig angefangen. Bei meinem marktbedingten Veröffentlichungsrhythmus wird der Text allerdings frühestens in sechs Jahren erscheinen. Vielleicht ist man noch kein richtiger Autor, wenn einen so etwas ungeduldig macht.
    Die Welt der Guermantes, S. 48–68
    Immer noch in der Oper. Das eigentliche Schauspiel stellen für ihn schon die Zuschauer dar. Der Marquis de Palancy sucht seinen Logenplatz » und schien das Publikum im Parterre ebensowenig zu sehen wie ein Fisch, der ohne das leiseste Bewußtsein von der Menge neugieriger Zuschauer hinter der Glasscheibe eines Aquariums träge entlang gleitet. Manchmal hielt er, ehrwürdigen Alters, kurzatmig und bemoost, einen Augenblick in der Bewegung inne, und die Zuschauer hätten dann nicht sagen können, ob er Beschwerden hatte, schlief, schwamm, gerade Eier legte oder auch einfach nur atmete «.
    Damals bei der Berma hatte Marcel seinen Geist in Bereitschaft gehalten » wie jene empfindlichen Platten, welche Astronomen in Afrika oder auf den Antillen zum Zweck der exakten Beobachtung eines Kometen oder einer Sonnenfinsternis aufstellen « und sich vor jeder Wolke geängstigt, die das Licht, das von dieser Sonne ausging, verfälschen könnte. So habe ich meinen Geist als Kind in Bereitschaft gehalten, wenn »Wetten, dass …?« kam und man ein komplexes Arrangement des Komforts inszenierte, um den Genuß der Sendung zu unterstützen. Der Rest der Familie war außer Haus, ich hatte also den guten Fernsehsessel für mich, und es wäre nicht verstiegen gewesen zu behaupten, daß dieser Sessel, den im Jahr 1900 ein Tischler in einem Dorf in der Nähe von Coburg angefertigt hatte, von diesem in unergründlicher Vorahnung genau für diesen Moment gedacht gewesen wäre. Ich hatte ihn in die perfekte Distanz zum Fernseher gerückt, mit derselben Sorgfalt, mit der Glenn Gould seinen Klavierhocker zu justieren pflegte, denn ich wollte gut sehen, fürchtete aber von den Scherben der Bildröhre durchbohrt zu werden, falls sie implodieren sollte, in

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