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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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würde man sich vor Wahrsagern hüten, wenn man wirklich an sie glauben würde. Die meisten Fußballspiele sind ohne Interesse, wenn man weiß, wie sie ausgehen. Spannung kann über ästhetische Schwächen hinwegtäuschen. Man muß eigentlich Texte schreiben, bei denen es keine Rolle spielt, ob man sie zum ersten oder zum hundertsten Mal hört, die man genießt, obwohl man schon weiß, was passiert. Oder gerade weil man weiß, was passiert, wie bei Kindergeschichten? Wie man ein bestimmtes musikalisches Motiv schon erwartet und beglückt ist, wenn es kommt? In der Musik gibt es keine Spoiler. Wenn man mir verrät, daß sich am Ende alles in einem C-Dur-Akkord auflöst, schmälert das mein Vergnügen nicht. Der Dirigent könnte die Partituren natürlich variabel interpretieren und es seiner Laune überlassen, ob er den Schlußchor der Neunten von Beethoven singen läßt oder nicht. Der Effekt setzt voraus, daß der Zuhörer die eigentliche Fassung im Kopf hat, er ist also immer noch an die Erwartung gebunden. Manche Musiker versuchen, ihre Hits öffentlich zu zerstören, man kann sie verstehen, aber man liebt sie nicht dafür.
    Ist es nicht dümmlich, beim Lesen jedesmal die gleiche Befriedigung über eine Wendung in der Handlung zu empfinden, die man schon kennt? Ich will bei Serien nie wissen, wie es weitergeht, es ist doch sowieso nur ausgedacht. In einer Langzeitdokumentation fasziniert es einen unendlich, was mit den Menschen im Lauf ihres Lebens passiert, weil es wirklich passiert ist. Aber sobald ein Autor Gott gespielt und sich ein Schicksal für seine Helden ausgedacht hat, fühle ich mich unterfordert. Dann könnte man sich auch den Episodenführer durchlesen und käme schneller zum Ziel. Trotzdem stört es mich, schon zu wissen, daß Saint-Loup Gilberte heiraten wird, aber vielleicht kommt es ja in meinem Exemplar gar nicht dazu, warum sollte in jedem dasselbe stehen?
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 591–612
    Marcel liebt jetzt Albertine, » Mein Zimmer war mir auf einmal ganz neu «. Die Gewohnheit bewirkt, daß man Dinge, die einem Unbehagen bereiten, verdrängt, sonst würde man es nirgends aushalten, aber sonst würde man auch öfter aufräumen. Jetzt ändert sich für ihn alles, und zwar » vom egoistischen Standpunkt der Liebe aus «. Denn alles wird daraufhin bewertet, ob es der Frau » eine vorteilhafte Meinung « von einem gibt. Und plötzlich sieht man überall Schlieren. Aber » mein schon sehr lebhaft gewordenes Liebesgefühl für Albertine hatte zur Folge, daß ich abwechselnd Rosemonde und Andrée vorschlug, zu mir in den Wagen zu steigen, und nicht ein einziges Mal Albertine «. Mit der Methode hat sich schon mancher verkalkuliert. Zum Glück verfolgt er eine parallele Gegenstrategie, nämlich durch Vorwände und Diskussionen zu erreichen, daß er schließlich doch neben Albertine im Wagen sitzt.
    Als sie eine Nacht in Marcels Hotel schläft, lädt sie ihn ein, sie nach dem Abendessen auf ihrem Zimmer zu besuchen. Nur die beiden wissen davon, was ihn in eine Hochstimmung versetzt: » Die geringfügigsten Bewegungen, wie zum Beispiel die, mit der ich mich auf der Bank des Fahrstuhls niederließ, waren mir angenehm, weil sie in unmittelbarer Beziehung zu meinem Herzen standen. « So etwas erreichen sonst nur ganz diszipliniert auf ihre Spiritualität konzentrierte Menschen. Aber als Verliebter ist jeder ein Mystiker.
    Die Dinge, die den Hintergrund für so eine Liebeserfahrung bilden, werden zu » verschwiegenen Zeugen, zuverlässigen Vertrauten und unverletzlichen Hütern unserer Freuden «. Nur daß die Kulissen niemand abbaut, wenn die Liebe vorbei ist. Dann geht man immer noch täglich an den Laternen vorbei, an die gelehnt man gestanden hatte und unter den Brücken durch, von denen man springen wollte. Jeder Ort, mit dem man irgendein persönliches Erlebnis verbindet, sollte aus dem Stadtbild entfernt werden, bis nur noch der Ernst-Reuter-Platz bleibt.
    Albertine liegt mit Schnupfen im Bett. Ihr nackter Hals und ihre hochroten Wangen versetzen Marcel in solch einen Rausch, daß » das Gleichgewicht zwischen dem unermeßlichen, unzerstörbaren Leben, das mein Wesen durchwogte, und dem im Vergleich dazu so kärglichen Leben des Weltalls durchbrochen war «. Eine gefährliche Situation für das Ich, wenn plötzlich das Draußen das Drinnen aufwiegt. Er ist ja gar nicht wiederzuerkennen, durchs Fenster sieht er die Dünen, diese » wie Brüste gerundeten Hügel «. Immerhin keine

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