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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Gefühl für die verschiedenen Arrondissements zu bekommen, deren Nummern ja irgendwie zur Allgemeinbildung gehören. Ich kann also nicht kennerhaft die Augenbrauen heben, wenn jemand sagt, daß er vom 5. in den 12. gezogen sei oder daß der 7. jetzt ist, was der 9. einmal war.
    Für Marcel muß ein Umzug eine Zumutung sein, nicht umsonst beginnt er einen eigenen Band damit. Und tatsächlich, er hat Temperatur und fühlt sich beim Anblick einer Truhe » peinlich geschwollen «, » ähnlich einer Boa constrictor, die einen ganzen Ochsen verschluckt hat «.
    Es folgen theoretische Überlegungen zu den verschiedenen Tönungen, die man mit einem Begriff verbindet und die in Schichten im Bewußtsein lagern, manchmal sieben oder acht übereinander. Wobei es passieren kann, daß » durch irgendeinen Zufall der Name Guermantes nach so vielen Jahren noch einmal eine Sekunde lang den von dem heutigen so ganz verschiedenen Klang annimmt «. Und die kostbarsten Schichten sind die ältesten, vor allem die erste, die noch von der Phantasie lebt. Man genießt die » seltenen Augenblicke, in denen wir plötzlich die ursprüngliche Wesenheit zitternd weben «, die in den toten Silben wieder ihre einstige Form annimmt » im schwindelnden Wirbel des täglichen Lebens, in dem sie nur noch eine rein praktische Verwendung finden «.
    Wenn ich denke, wie oft ich in Brest oder Sofia war, hat jeder Aufenthalt im Gedächtnis seine eigene Tönung, aber es wird immer schwerer, sie zu verwalten. Reisen dorthin sind anstrengende seelische Übungen, weil man sich sein jeweiliges Ich und den Eindruck von der Stadt aus den entsprechenden Epochen wieder ins Gedächtnis rufen will, mit allen dazugehörenden Gefühlen. Wozu macht man das überhaupt? Weil man an die Doktrin glaubt, daß alles, was man einmal gefühlt hat, wertvoll ist, als seien Emotionen der Honig, den man als Mensch produziert.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » Mit der angeblichen Sensibilität der Nervösen nimmt ihr Egoismus zu; sie können von seiten der anderen das Zurschaustellen eines Unbehagens, dem sie bei sich selbst in ständig zunehmendem Maße Beachtung schenken, einfach nicht ertragen. «
    56 . Mi, 13.9., Berlin, abends, leichter Schnupfen, leichte Halsschmerzen, am linken Knie zwei juckende Schürfwunden vom Fußball
    Proust soll gelbe Lederhandschuhe getragen haben, um sich daran zu hindern, beim Schreiben an den Fingernägeln zu kauen. Dann müßte ich mir eine Ledermaske übers Gesicht stülpen wie Hannibal Lecter, weil ich mir immer die Haare aus den Koteletten reiße, immer öfter graue. Lesen ist eine Tätigkeit, die den Körper abschaffen will, wogegen er sich wehrt wie ein hyperaktives Kind, es gibt eigentlich keine Sekunde, in der man stillhält. Ich erwische mich beim Nasebohren, Bizepsbefühlen, Fingerknacken, ich streiche mir ständig mit dem Bleistift übers Gesicht wie mit einem Rasierapparat. Und auch nach fünfunddreißig Jahren ist es für mich noch aufschlußreich, meine Züge tastend zu erforschen.
    Man kann in lauten Bars lesen oder in Flughafenlobbys, es ist überall möglich, sich zu konzentrieren, aber zu Hause, wo es still ist und einen nichts stört, fallen einem plötzlich Geräusche auf, die man nie beachtet hatte. Je leiser, umso schwerer zu ignorieren, ein Knacken des Holzschranks zum Beispiel versetzt einen in so aufgeregte Erwartung des nächsten Knackens, daß man immer wieder die Konzentration verliert. Ich bin auch sicher, daß man viele Geräusche, die unterhalb der Reizschwelle liegen, trotzdem wahrnimmt, bis hin zu Radiowellen. Weshalb ich kaum noch Musik höre, sondern mich, um mich in dieselbe Stimmung zu versetzen wie früher durch Musik, einfach auf die Geräusche konzentriere, die der Zufall mir zuträgt. Die Leistung, die Klänge eines Klaviers als wohltuend zu empfinden, erbringt ja mein Bewußtsein, es kann also das gleiche auch mit der Tröte vom Eisauto tun.
    Mein bevorzugter Platz zum Lesen ist zur Zeit mein Bett, es steht auch im einzigen Raum ohne Bücher. Ich lese am liebsten mit einer Tasse Kaffee auf dem Bauch, die mich wärmt und sich mit meinem Atmen hebt und senkt wie ein Neugeborenes. Allerdings steht die Tasse etwas schräg nach vorn, weil ich abgenommen habe. Und wenn ich im Winter zu stark zunehme, kippt sie zur anderen Seite. Ich werde das beobachten.
    Eigentlich müßten sie mit der »Recherche« einen kleinen Proust-Kopf liefern, den man für die Dauer der Lektüre neben sich legen könnte, um ihm

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