Schmidt Liest Proust
einer Wissenschaftssendung hatten sie das demonstriert. Alles, was ich in zwei Stunden zu essen und zu trinken brauchen würde, stand auf der breiten Lehne des Sessels bereit; wenn Weihnachten noch nicht lange zurücklag auch die wichtigsten Geschenke. Der Abend konnte nur perfekt sein, wenn es mir gelänge, ihn ohne einmal aufstehen zu müssen zu verbringen. Der zweitbeste Fernsehsessel, auf dem sonst ich saß, war jetzt nur für meine Füße da und konnte so nah herangerückt werden, daß meine Beine an keiner Stelle über dem Nichts schweben mußten und ich vor allem in Sicherheit war, was auf dem Boden kroch. Wird man je wieder solch eine Vorfreude und Geborgenheit erleben, oder ist das höchste Glück, das man erreichen kann, schon das verlorene Glück in Worte zu fassen?
Wie für mich »Wetten, dass …?« an Bedeutung verloren hat, so wechseln auch für Marcel die » Gegenstände seiner Selbstverleugnung «. Die Berma, Gilberte, Balbec, Venedig, zuletzt gotische Wandteppiche, es ist immer derselbe Vorgang, immer die Suche nach der » Idee der Vollkommenheit «. Aber das Glück kommt in Momenten, in denen man sich nicht darauf konzentriert. Darin liegt ja auch das Elend der Tourismusindustrie, die Immanenzerfahrungen garantieren will und dabei scheitert wie jemand, der sich durch Kerzen und eine Kuschelrock-CD in romantische Stimmungen versetzen möchte, wo doch jeder weiß, daß die wahre Romantik darin liegt, zerlumpt und ausgeraubt auf der Bank irgendeiner Prager Vorstadtbushaltestelle aufzuwachen, aus den herumliegenden Kippen eine Zigarette zusammenzubasteln und sich auf der Suche nach Feuer auf eine lange, ereignisreiche Wanderung zu begeben.
Aber gerade weil Marcel sich nichts mehr vom Auftritt der Berma erhofft, wird ihr Talent für ihn in dieser » Stunde der Gleichgültigkeit « augenfällig. Er wäre damals, beim ersten Mal, schon aus rezeptionsästhetischen Gründen nicht in der Lage gewesen, ihre Größe zu erkennen, weil ihr Spiel ja ohne Vergleich war. » Und deshalb müssen gerade die wahrhaft schönen Werke, wenn man ihnen ohne Selbsttäuschung lauscht, uns am meisten enttäuschen, da es in unserer Sammlung von Ideen keine einzige gibt, die einem individuellen Eindruck entspricht. « Schlimm genug für die Schöpfer wahrhaft schöner Werke.
Das eigenartige ist, daß die Kunst der Berma nicht nur bei einem Text wie der Phädra funktioniert, sondern auch bei den Versen des Modeschriftstellers, die sie im Anschluß spricht. » Da wurde mir klar, daß das Werk des Schriftstellers vom Standpunkt der Tragödin aus gesehen nur der an sich belanglose Rohstoff für das von ihr zu schaffende Meisterwerk der Darstellungskunst ist, so wie der große Maler, dessen Bekanntschaft ich in Balbec gemacht hatte, Elstir, zum Vorwurf zweier gleichwertiger Bilder im einen Falle ein ganz banales Schulgebäude, im andern eine Kathedrale gewählt hatte, die in sich bereits ein Meisterwerk war. « Daher vielleicht das Mißtrauen vieler Dramatiker gegenüber ihren Schauspielern.
Das Zentrum des Opernsaals – in seiner Sitzhierarchie ja selbst eine soziale Inszenierung – ist Madame de Guermantes in ihrer Loge. Neben ihr sitzen die anderen Vertreter des Hochadels, während das Publikum im Parkett nur » Korallenbauten « für diese Meeresgötter darstellt. Marcel sieht sich im Vergleich gar als » jeder individuellen Existenz bares Protozoon «, dem aber zu seiner Verblüffung die Madame mit ihrer weißbehandschuhten Hand zuwinkt, um auf ihn » den blitzenden, himmlischen Funkenregen ihres Lächelns « fallen zu lassen.
Daraufhin benimmt er sich in der nächsten Zeit wieder wie ein Verliebter, er steht früh auf und wartet an der Ecke, wo er die Madame erwartet. Sobald sie erscheint, » ging ich zerstreuten Blicks und nach der anderen Seite schauend zurück und hob meine Augen erst zu ihr auf, wenn ich mich mit ihr auf gleicher Höhe befand, als habe ich keineswegs erwartet, sie plötzlich vor mir zu haben «.
Verlorene Praxis:
– Im Theater die Muskeln seines Gesichts zur Unbeweglichkeit zwingen, um, wenn auch unbemerkt, einen Protest zu dokumentieren.
58 . Fr, 15.9., Berlin, nachmittags, immer noch sommerlich verglühende Tage
Je mehr ich gereist bin, umso schwieriger wird es für mich, meine Sympathien im Fußball aufzuteilen. Die Ergebnisliste vom UEFA-Cup liest sich wie eine einzige invitation au voyage . Daß es sich um Fußball handelt, ist dabei völlig nebensächlich, ich lese die Namen der Städte
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