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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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geblieben ist. Korridore mit salonartigen Vorplätzen » die eher wirkten, als wohnten sie dort selbst, anstatt daß sie einen Teil fremden Wohnraums bildeten «.
    Der Schlaf, dieser » wohltuende Anfall von Geistesverwirrung «, in den man einem Menschen folgen können müßte, wollte man sein Leben beschreiben. Das Aussetzen der Logik in den Grübeleien, die den Versuch einzuschlafen begleiten. Der Schlafbereite begrüßt es freudig, weil er durch dieses Tor der Wirklichkeit entrinnen kann. Es gibt:
    – Den kurzen Schlaf, in den man ungewollt beim Auskleiden auf dem Bett fällt. Er hat die Macht, die Perspektive auf die Dinge schlagartig zu verändern.
    – Den Schlaf durch Stechapfel, Hanf, Äther, Opium, Belladonna, Baldrian.
    – Den Alptraumschlaf.
    – Die gute Kindheitsmüdigkeit.
    – Den bleiernen Schlaf, bei dem man sich fragt: » Wie bringt man es überhaupt fertig, wenn man dann seine Gedanken, seine Persönlichkeit, wie einen verlorenen Gegenstand sucht, sein eigenes Ich und nicht statt dessen ein anderes wiederzufinden? Warum verkörpert sich nicht in uns eine andere Persönlichkeit anstatt unsrer früheren, wenn man wieder zu denken beginnt? « Man ist ja sozusagen schon tot gewesen. » Und vielleicht ist auch die Auferstehung der Seele nach dem Tode mehr oder weniger ein Gedächtnisphänomen. «
    Morgens legt sich über Marcels Dasein eine große Traurigkeit, und er schickt nach Saint-Loup, der gerne kommt und ihn wie ein Arzt beruhigt: » [I]ch war von solchem Überschwang erfüllt, daß ich handeln wollte. « Immer ein verdächtiges Bedürfnis, das einen nur im Überschwang packen kann, oder wenn man verliebt ist. Man sollte dann keine Handarbeiten oder Basteleien beginnen, die sich, für den Fall, daß die Liebe sich als nicht dauerhaft erweist, nicht wieder aufdröseln oder zerlegen lassen.
    Er läßt sich nun tagsüber von Saint-Loup und seinen Kameraden in Militärtheorie einweihen und sinkt nachts in tiefen Schlaf, was für ihn allerdings eine Form von Arbeit ist. Manche denken ja, man müsse seine Kindheitsorte aufsuchen, um das Vergangene in sich wiederzufinden: » Doch sind dies höchst gewagte Pilgerfahrten, in deren Verfolg man mehr Enttäuschung als Erfüllung erlebt. Jene festverankerten Stätten, die Zeugen der verschiedenen Jahre gewesen sind, finden wir besser in uns selbst. «
    Ich kann gar nicht sagen, wie sympathisch es mir ist, wenn ein großer Autor hier einmal eine Lanze für den Schlaf bricht. Man steht ja heute immer noch im Verdacht, ein Faulenzer zu sein, wenn man viel schläft, und wenn man sich gar zum Mittagsschlaf bekennt, gilt man in den Augen vieler als senil. Dabei ist wach zu sein nur ein kleiner Ausschnitt meiner Tätigkeit als Autor, schlafen ein anderer. Im Grunde erhole ich mich am Tag von dem, was mit meinem Bewußtsein nachts passiert. Man gilt zwar als tot, wenn man nicht mehr aufwacht, und nicht, wenn man nicht mehr einschläft, aber das ist nur eine Frage der Perspektive.
    Unklares Inventar:
    – Zinerarien.
    Verlorene Praxis:
    – Sich morgens von seinem Burschen eine Schokolade bereiten lassen.
    60. Mo, 18.9., Berlin, nachmittags, heiter, freundlich
    Briefe kommen immer aus der Vergangenheit, das liegt schon an der Post. »Immerfort fallen die Äpfel von oben nach unten mit diesem dummen Geräusch«, schrieb mir meine erste Freundin jetzt aus dem Dorf, in das sie sich gerne zurückzieht, und es war wieder einer dieser Sätze, die sie anderen voraus hatte. Dieses »dumme Geräusch«, mit seinem zärtlichen Trotz der Natur gegenüber, das eigenartig überpräzise »von oben nach unten«, das den Vorgang sofort bemerkenswert macht. Später lese ich die Stelle noch einmal und stelle fest, daß sie in Wirklichkeit »mit diesem dumpfen Geräusch« geschrieben hat. Poesie ist immer nur ein Mißverständnis.
    Die Welt der Guermantes, S. 108–129
    Nach wie vor schleicht Marcel durchs Garnisonsstädtchen und speist abends mit den Offizieren. Das eigentliche Ziel dieser Reise, Saint-Loup anzuspitzen, ihn bei seiner Tante, Madame de Guermantes, ins rechte Licht zu rücken, gerät fast in Vergessenheit. Er fühlt sich nämlich in der Kaserne beschwingt wie nie: » Wie ein Taucher, der durch einen bis über die Wasserfläche reichenden Schlauch atmet, hatte ich das Gefühl, mit dem gesunden Leben und der frischen Luft verbunden zu sein. « Kann man das allein dem Anblick von gedrillten Männern in Uniform zuschreiben? Ist die Kaserne eine Art Gegenwelt, auf die der

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