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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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sehen, wohnt man für einen kurzen Augenblick der eigenen Abwesenheit bei. Zum ersten Mal wird ihm bewußt, daß seine Großmutter nicht mehr die Jüngste ist. Das durch die Liebe erzeugte unveränderliche Bild des Menschen ist für einen Moment gefährdet. Die » pietätvolle Liebe « ist noch nicht zur Stelle, und er sieht nur mit den Augen, nicht mit dem Herzen. So wie ein Kranker nach langer Zeit in den Spiegel blickt und » inmitten der verdorrten und verödeten Landschaft seines Gesichts die Nase mit schrägen Wänden rötlich und gigantisch wie eine ägyptische Pyramide hervorspringen sieht «. Und so sieht er beim Eintreten, wenn auch nur für Sekunden, die geliebte Großmutter » auf dem Kanapee sitzend, rot, schwerfällig, vulgär, krank, vor sich hindösend und mit etwas wirrem Blick über ein Buch hingleitend eine alte, von der Last der Jahre gebeugte Frau, die ich gar nicht kannte «.
    Unklares Inventar:
    – Eau des Souverains, königsblaues Sèvres, ein Tilbury.
    – Sehr viele Namen: Galliffet, Négrier, Geslin de Bourgogne (Offiziere). Thiron, Febvre, Amaury (Schauspieler). Fould, Rouher, Berthier, Masséna.
    Verlorene Praxis:
    – Den Telefonhörer einhängen, und » damit die Zuckungen dieses klingenden Stumpfes « ersticken.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » Das Telephon war in jener Epoche noch nicht so im Schwange wie heute. «
    63 . Do, 21.9., Berlin
    Während die Sonne scheint, und es immer noch nicht nach Herbst aussieht, hat sich in mir ein hartnäckiger Katarrh ausgebreitet. Nase und Rachen sind befallen, und ich bin ganz geknickt. Der männliche Körper ist wie ein Turm, nimmt man ein Steinchen heraus, fällt alles in sich zusammen. Nachdem ich mich ein halbes Jahr unter Qualen auf den diesjährigen Berlin-Marathon vorbereitet habe, sieht es so aus, als müßte ich ihn nach fünf Teilnahmen in Folge ausfallen lassen. Ich war schon manchmal ein, zwei Wochen davor krank gewesen, hatte mich aber immer zwingen können und war dafür hinterher wochenlang angeschlagen gewesen. Wenn ich ehrlich bin, haben meine Teilnahmen, die für fünf Jahre fast täglichen Trainings stehen, mich charakterlich nicht weitergebracht. Man kann sich zwar vier Stunden vor Schmerz wie auf Messern laufend nahe an einer Ohnmacht bewegen, ohne deshalb aufzugeben oder auch nur stehenzubleiben, aber es fällt einem dadurch kein bißchen leichter, sich beim Nachbarn über nächtliche Ruhestörungen zu beschweren oder dem Sparkassenmann einmal klar und deutlich zu sagen, daß er nicht alle paar Wochen anrufen muß, um einen zu überreden, sein Geld irgendwie sinnvoller anzulegen. Ich bin lediglich noch unspontaner geworden, weil ich allem aus dem Weg gehen mußte, was den Trainingsplan hätte gefährden können.
    Aber es war immer klar, daß ich nur so lange Marathon laufen werde, wie die Serie nicht gerissen ist. Ich werde sicher nicht noch einmal anfangen. Damit geht für mich ein Lebensabschnitt zu Ende und plötzlich werden die Jahre, die diesem Ziel gewidmet waren, zur Vergangenheit. Die Läufe durch den Smog von Kaliningrad, wo gerade ein Zelluloselager brannte, durch die verwilderte Borisowa Gradina in Sofia, das schöne Flußufer von Minsk, der weiße Beton von Brest, die Runden um den Central Park, wo ich nachts immer Angst hatte, an der nördlichen Kurve überfallen zu werden, der Wind auf dem Oderdeich, die Schwarzmeerküste, wie Jahresringe des Sozialismus die Plattenbauten von Sarajevo, der verschneite Thüringer Wald. Wie ein Militärstratege die Landschaft intuitiv als Aufmarschgebiet mustert, ein Geologe ihr Informationen zur Erdgeschichte entnimmt und ein Tourist sie nach Aussichtspunkten absucht, sieht der Läufer überall nur Laufstrecken. Wenn ich denke, daß es die meiste Zeit eine Überwindung war, überhaupt noch einen Schritt zu tun, daß ich vielleicht ein Zehntel aller gelaufenen Kilometer mit Freude gelaufen bin, dann frage ich mich, warum ich nicht dieselbe Energie dafür aufbringe, endlich einmal die Klinke von meiner Schlafzimmertür festzuschrauben, ein neues Mailprogramm zu installieren oder Wohngeld zu beantragen.
    Die Welt der Guermantes, S. 169–190
    Nach wie vor stellt er der Herzogin nach, aber er spürt auch deutlich, daß es ihr unangenehm ist, ihm täglich zu begegnen, da sie vermuten darf, daß das kein Zufall ist. Um das auszugleichen, antwortet er ihr kaum auf ihren Gruß oder er » starrte sie an, ohne überhaupt zu grüßen «. Das muß man als Frau immer mitbedenken,

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