Schmidt Liest Proust
verwöhnte Neurastheniker seine Sehnsüchte nach einem sportlichen, disziplinierten Leben projiziert?
Abends beim Essen bietet er Saint-Loup das »Du« an, der diese Bitte mit einem Zitat quittiert: »› Freude! Tränen der Freude! Ungeahnte Glückseligkeit!‹ « So eine Reaktion erwartet man von seinen Freunden! Aber der verschlagene Marcel nutzt diesen Moment, um Saint-Loup um das Foto zu bitten, das dieser von seiner Tante besitzt. Saint-Loup errötet, offenbar hat er einen » Hintergedanken «. Glaubt er, Marcel wünsche das Bild als Vorlage für gewisse Dinge?
Die anschließende seitenlange Diskussion über die Dreyfus-Affäre brachte nichts ein.
Unklares Inventar:
– Phlogiston, Rötelstudie.
Verlorene Praxis:
– In düsteren Gäßchen hinter Kathedralen vom Verlangen nach Liebe gepackt erschreckte Passantinnen in die Arme schließen.
61 . Di, 19.9., Berlin, bedeckt, still
In der seit Jahren bewährten, bequemen Position, die ich beim Lesen einnehme, schläft mir bei Hardcover-Bänden doch immer wieder die linke Hand ein, die das Buch hält, vom kleinen bis zum Mittelfinger. Was ich darüber bis jetzt noch nicht bemerkt hatte, war, daß mir manchmal auch Teile der Kopfhaut einschlafen. Heute habe ich mich mit dem Bleistift links hinten am Kopf kratzen wollen und erschrak, weil sowohl für meinen Kopf die Berührung von einem Fremden zu kommen schien, als auch meine Hand einen fremden Kopf zu berühren meinte. Es war ein kleiner Schock, einmal zu spüren, wie sich mein Kopf für andere anfühlt, nämlich wie ein haariger Klotz. Nur wenn die Verbindung zwischen Körper und Bewußtsein getrennt wird, können beide sich wahrnehmen. Man könnte vielleicht vermuten, daß es so auch im emotionalen Bereich funktioniert: Erst wenn Teile meines Gefühlslebens einschlafen, sehe ich, wie fremde Gefühle auf mich und wie ich auf andere wirke.
Die Welt der Guermantes, S. 129–149
Marcel lauscht den faszinierenden Erörterungen der jungen Offiziere zur Kriegskunst. Die für die eigenen Schritte notwendige Hermeneutik der Bewegungen des Feindes. Die Auslegung seiner Tagesbefehle, die auch schon zur Täuschung formuliert sein können. Sind Finten, die, um glaubhafter zu wirken, ernsthaft ausgeführt werden, noch Finten? Jede Schlacht ist das » taktische Pasticcio « einer früheren, die man aus ihr herauslesen kann. Die früheren Schlachten, die » die Aristokratie der neuen Schlachten ausmachen «. Man muß die Militärgeschichte studieren, um unter einer modernen Schlacht die Idee einer älteren wiederzuentdecken. Jeder große Feldherr hat aus der Geschichte seine bevorzugten Strategien entnommen, die er immer wieder studiert hat und irgendwann erproben wird. Das Lesen der Landschaft als Terrain für die Schlacht. Ein Schlachtfeld kann immer wieder Schauplatz einer Schlacht werden, wenn es sich einmal dazu geeignet hat. Der Stratege sieht in seiner Phantasie Armeen ziehen, genau auf den Wegen, die sie später nehmen werden, weil die Landschaft es so vorschreibt.
Was macht das Genie eines großen Heerführers aus? Wie kann man seine Intuition beschreiben, die ihn zwischen scheinbar gleichwertigen Taktiken die siegreiche auswählen läßt?
Die Beschleunigung, die die Entwicklung der Kriegskunst durch die Kriege selbst erfährt, in denen sich beide Seiten die Lehren zunutze machen, die ihnen der Gegner erteilt, und ihn zu übertrumpfen versuchen. Aber: » Bei den grauenhaften Fortschritten der Artilleriewirkung werden künftige Kriege, falls es überhaupt noch zu Kriegen kommt, so kurz sein, daß, noch ehe man daran denken kann, die Lehren des Krieges zu nutzen, der Friede bereits geschlossen sein wird. «
Obwohl Marcel für gewisse Zeiten Madame de Guermantes fast vollständig vergißt, kann er dann doch manchmal wieder kaum atmen vor Sehnsucht. » Ein weicherer Lufthauch, der vorüberstrich, schien mir von ihr eine Botschaft zu bringen wie einst von Gilberte auf den Feldern von Méséglise: man wandelt sich nicht, man nimmt in seine Gefühle für ein anderes Wesen viele schlummernde Elemente auf, die es weckt, obwohl sie ihm eigentlich fremd sind. «
Saint-Loup hat wenig Glück mit seiner Geliebten: » Denn die Gründe, weshalb sie schlechter Laune war, mit den Füßen stampfte, weinte, waren ebenso unbegreiflich wie die von Kindern, die sich in einem dunklen Zimmer verschanzen, nicht zum Essen erscheinen, jede Erklärung ablehnen und nur um so verzweifelter schluchzen, wenn man ihnen aus Ratlosigkeit ein
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