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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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habe er die Schultasche immer unter dem linken Arm getragen.
    Nutzloses Wissen: Einer der abgründigsten Sätze von Schostakowitschs Sinfonien sei das Allegretto in der Zehnten. »Es beschreibt den Komponisten, der allein in seinem Arbeitszimmer ist, denkt, und umhergeht.«
    Zehn Jahre standen die Ableger meiner Graspflanze in dem kleinen Kännchen im Wasser und haben Wurzeln gebildet. Ich habe es einfach nie geschafft, sie einzupflanzen. Jetzt habe ich sie weggeworfen. Resignation oder Aufbruch?
    Die Welt der Guermantes, S. 252–273
    Es ist so weit, es gibt einmal nichts zu sagen, so langweilig waren also die Pariser Salons zu Prousts Zeiten. Bloch benimmt sich daneben, man lästert über Saint-Loups Geliebte, Monsieur de Norpois erscheint verspätet und greift sich, um zu kaschieren, daß er als Hausfreund der Madame de Villeparisis die ganze Zeit in einem anderen Zimmer ihre Papiere sortiert hat, im Flur einen Hut, aus Versehen den von Marcel. Naja … Als Diplomat schafft er es, sich lebhaft dafür auszusprechen, daß Marcels Vater einen Akademiesitz bekommt, aber gleichzeitig anzukündigen, daß er selbst im Moment noch dagegen stimmen würde. Dem schreibenden Marcel gibt er den Rat, daß es » dem Romanschriftsteller besser ansteht, eine Intrigue zu schürzen « (vielleicht hätte ihm der oben erwähnte Film gefallen).
    Unklares Inventar:
    – Pflanzendekokt.
    Verlorene Praxis:
    – Einer Sitte folgend, die gerade Mode ist, seinen Zylinderhut neben sich auf den Boden stellen.
    – Dem deutschen Botschafter gegenüber einen eigenen Standpunkt in der chinesischen Frage vertreten.
    – Sich beim Eintreten in einen Salon » mit vorsichtig stutzender Langsamkeit « voranschieben, als fürchte man, » auf Schleppen zu treten oder Gespräche zu stören «.
    – Der Gastgeberin dabei zusehen, wie sie Moosrosen, Zinnien und Venushaar aquarelliert.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » Ein Künstler, mag er auch noch so bescheiden sein, verträgt immer, daß man ihm vor seinen Rivalen den Vorrang gibt. «
    68 . Di, 26.9., Berlin
    Bevor ich zur Schule kam, hatten wir Mädchen nur angefaßt, um sie festzuhalten und ihnen den Rücken mit zerdrückten Hagebutten einzureiben, was angeblich jucken sollte. Die Größeren unter uns, die schon etwas schreiben konnten, spielten dann ein neues Spiel, bei dem einer dem anderen mit dem Finger Buchstabe für Buchstabe ein Wort auf den Rücken schrieb, das es zu raten galt. So kam es, daß ich, weil ich unbedingt mitspielen wollte, schreiben gelernt habe, auf Mädchenrücken.
    Sie denke viel an mich, könne sich aber nicht überwinden, sich zu melden, weil sie gerade »gern allein sei«, schreibt sie. Das war ich bis vor kurzem auch.
    Die Welt der Guermantes, S. 273–293
    Im Salon der Madame de Villeparisis wird vor allem gelästert: Bloch lästert über Saint-Loup, alle lästern über Rahel, die Madame de Guermantes lästert über Odette und über ein Stück von Maeterlinck (wofür Marcel sie verflucht), sowie über die Madame de Cambremer (» dieses riesige Huftier «).
    Dann kommt man auf die Dreyfus-Affäre zu sprechen, und es fallen die Namen von Zola, Oberstleutnant Henry, Oberstleutnant Picquart, Fezensac, Duras, Esterhazy, Paty de Clams, Cavaignac, Cuignet, Reinach,
Boisdeffre, Rochefort, des Prinzen von Orléans, der Prinzessin Clementine, des Prinzen Ferdinand, des Fürsten von Bulgarien, des Prinzen von Joinville.
Sie alle haben zur Frage, ob Dreyfus schuldig ist oder nicht, etwas beizutragen. Man wird fast ein wenig ungeduldig und fragt sich, ob Proust nicht gut daran täte, wieder einmal ein wenig »Intrigue zu schürzen«. Aber nein, solche Gedanken muß man in sich niederzuringen wissen, es ist alles nur ein Weg, die Spreu vom Weizen unter den Lesern zu trennen. Zwanzig Seiten sind doch das mindeste, was man uns als Autor aufgeben kann, wenn man uns dafür mit einem kleinen Satz belohnt, nicht einmal einem besonderen Satz, nur einem schlichten und wahren Gedanken: » Aber ein anderes Gesetz der Sprache besteht darin, daß von Zeit zu Zeit, so wie gewisse Krankheiten kommen und gehen, von denen man später nichts mehr hört, Redewendungen auf ganz ungeklärte Weise entweder spontan oder dank einem Zufall entstehen wie dem, der in Frankreich ein Unkraut aus dem im Plüsch einer Reisedecke aus Amerika mitgeführten Samen entsprießen ließ, der auf die Eisenbahnböschung fiel, Redwendungen, die man innerhalb eines Jahrzehnts aus dem Munde der verschiedensten

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