Schmidt Liest Proust
Menschen vernimmt, die sich bestimmt nicht darüber verständigt haben. «
Redewendungen, die sich wie Krankheiten ausbreiten und heute ja nicht mehr nur über Reisedecken, sondern durch die Medien (»unter der Woche«, »an Ostern«, »O-Saft«, »auf jeden« …), das ist zu einem ernsten Problem für die seelische Gesundheit der wenigen geworden, die bemüht sind, zu reden wie sie selbst und nicht wie ihre Zeit. Man müßte diese Redewendungen eben auch wie Krankheiten bekämpfen, indem man jeden, der sie verwendet, so lange knebelt, bis die Gefahr einer Seuche gebannt ist.
Unklares Inventar:
– Ein Pronunciamento-General.
69 . Mi, 27.9., Berlin
Ich bin eigentlich immer krank, nur manchmal sind die Diagnosegeräte nicht genau genug. Seit vorgestern habe ich Schmerzen im Nacken und kann den Kopf nicht mehr nach links drehen. Ich weiß nicht, ob das einen Einfluß auf mein Werk haben wird, aber die auffälligste Konsequenz wird wohl sein, daß ich mich, solange ich unter diesem Zustand leide, nur noch in Frauen verlieben kann, die rechts von mir sitzen. Da ich von links besser aussehe, wären das immerhin die Frauen, denen es wirklich um mich geht und nicht nur um mein Aussehen. Trotzdem würde es nichts mit uns werden, weil ich es immer gewohnt war, rechts neben der Frau zu gehen, links fühle ich mich ganz verloren. Ich müßte also in Zukunft, wenn ich unbedingt mit einer Frau spazieren will, um mich dabei nicht völlig zu verleugnen, rückwärts gehen. Dann hätte der eine immer den Weg im Blick, der noch vor uns liegt, und der andere den, den wir schon gegangen sind. So könnten wir immer zusammen sein, und trotzdem würde jeder sein eigenes Leben leben.
Die Welt der Guermantes, S. 293–314
Offenbar sind alle anderen Salongäste dreyfusfeindlich und zudem traditionell antisemitisch eingestellt. Aus Angst vor ihren Gästen möchte die Gastgeberin Bloch, weil er Jude ist, bei der Verabschiedung bedeuten, daß er nicht wiederzukommen brauche, gerät aber in Bedrängnis, als dieser ihr die Hand reicht, denn wegen seiner Bohème-Kontakte, die ihr für ihren Salon noch nützlich sein könnten, möchte sie ihn auch wieder nicht verstoßen. Ein Dilemma, aus dem sie sich rettet, indem sie sich in ihrem Sessel schlafend stellt, als er ihr seine Hand unter die Nase hält. Für ihn wirkt diese Reaktion, als sei sie aus Altersgründen nicht mehr ganz beisammen. Auch auf sein Adieu antwortet sie nicht: » Die Marquise machte mit den Lippen die ganz leichte Bewegung einer Sterbenden, die den Mund öffnen möchte, deren Blick jedoch nichts mehr erkennt. «
Irgendwann fällt einem auf, daß alle reden, aber Marcel selbst die ganze Zeit über kein Wort sagt. So trifft zum Beispiel jetzt Saint-Loup ein und spricht zu seiner Tante, der Madame de Guermantes. Anscheinend weist er sie, wie gewünscht, auf Marcel hin, weswegen sich die Madame diesem zum ersten Mal zuwendet. Aber noch bevor er ihre Frage nach seinem Befinden beantworten kann, heißt es: » Da er [Saint-Loup] befürchtete, die Unterhaltung werde auf der Stelle stocken, trat er selbst hinzu, um sie weiterzuspinnen, und antwortete für mich: Es geht ihm nicht besonders, er ist etwas abgespannt; im übrigen ginge es ihm besser, wenn er dich öfter sähe, denn ich möchte dir nicht verhehlen, daß er dich sehr gern sieht. « Dann läßt er sie allein und: » Wir schwiegen alle beide. « Schließlich bricht die Madame das Schweigen: » Ich sehe Sie manchmal am Vormittag. « Aber noch bevor Marcel darauf antworten kann, stößt eine andere Madame dazu und stellt der Madame de Guermantes eine Frage. Es war denkbar knapp, aber er hat es wieder geschafft, nichts zu sagen. Zu schweigen wäre nach dem Versuch, eine Party mit Ohrstöpseln mitzumachen, ein gutes Folgeexperiment. Ich wette, es würde niemandem auffallen, wenn ich kein Wort sagen würde, im Gegenteil, hinterher würde es heißen, ich sei diesmal viel sympathischer gewesen.
Der Name des eintretenden deutschen Premierministers Fürst von Faffenheim-Münsterburg-Weiningen erinnert Marcel an einen deutschen Badeort, in dem er einmal mit der Großmutter gewesen ist und der » am Fuße eines Gebirges gelegen war, welches durch Spaziergänge Goethes seine Weihe erhalten hatte «. Das war Goethes bemerkenswerte Gabe, die Welt mit einer Schleifspur von Sinn zu überziehen. Alles, was er berührt hat, war für immer Teil von Goethes Kosmos und dadurch auch irgendwie erlöst worden. Nur für ihn selbst war es
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