Schmidt Liest Proust
aus der Luft gegriffenen Vorwürfe erinnern, die sie gegen ihn vorgebracht hat, und sich fragen, ob diese nicht doch vielleicht begründet waren. «
Das funktioniert wohl nicht nur in der Liebe so, sondern auch mit jeder anderen Form von Kritik: »Sogar bei Zerwürfnissen zwischen einem guten Autor und einem bösen Kritiker, und sogar wenn das Recht ganz klar auf Seiten des Autors ist, kommt es doch immer vor, daß ein ganz unbedeutender Einwand dem Kritiker den Anschein gibt, in einem Punkte wenigstens doch nicht ganz Unrecht zu haben. Da der Kritiker alle anderen Punkte aber übergeht, wird, wofern der besagte Autor ihn irgendwie braucht und unter berufsmäßig bedingter Isolation leidet, sein geschwächtes Selbstgefühl ihn gegen sich selber einnehmen, er wird sich der aus der Luft gegriffenen Einwände erinnern, die gegen ihn vorgebracht wurden, und sich fragen, ob diese nicht doch vielleicht begründet waren.«
Unklares Inventar:
– Jabot, ein schimmernder Domino, Spazierfahrt im Phaeton.
Verlorene Praxis:
– Dem Neffen seine Aktfotosammlung vererben.
71 . Fr, 29.9., Berlin, abends, immer noch lau
Arbeitstreffen für die »Weltchronik«, die monatliche Gegenwartsarchivierungsshow, die ich mit Falko Hennig plane. Kaffee mit Falko und unserem ersten Gast, dem Kölner Kriminalpsychologen Mark Benecke. Wie anregend neugierige Menschen sind! Die angeblich 11 000 in Köln von den Römern getöteten Jungfrauen, die einen schwunghaften Reliquienhandel ermöglichten und Köln zu einem der reichsten Bistümer des Mittelalters machten. Bei Madonna sei es doch auch egal, ob der Schlüpfer bei eBay echt ist, warum man das dann von Reliquien erwarte. Warum die Evolution nicht dafür gesorgt habe, daß die Opfer ihren Räubern nicht mehr schmeckten. Opfer sei schon das falsche Wort, korrekter heiße es »stomach content provider«. An welcher Krankheit Johnny Cash gestorben sei, Parkinson ja nicht, und Alkoholiker sei er auch nicht gewesen. Also sicher upper and downer. Nur auf der Bühne war er schmerzfrei, Syphillis käme also auch in Frage. Woran der Sänger dieser einen Band leide, der sei so aufgedunsen. Kokain? Würde man davon nicht abmagern? Nein, nicht im fortgeschrittenen Stadium. Im Gerichtssaal sei es ganz schlecht, als Gutachter kahlrasiert und am ganzen Körper tätowiert zu erscheinen. Das Publikum in Kinderschänderprozessen verlange immer, dem Schuldigen die Hoden abzuschneiden und ihn in kochendes Wasser zu werfen. Vor Gericht zu gestehen sei übrigens immer ein Fehler. Ob man die mißlungene Schülerinszenierung eines Vampir-Stücks verreißen dürfe? Die russische Putzfrau nebenan sei übrigens mit Sicherheit höher qualifiziert als wir alle. Wer denn da singe? Der junge Stevie Wonder. Dem habe er mal an seine eingeblendete Autogrammadresse geschrieben, später habe er sich gefragt, wie der das denn lesen solle? Wenn einem der Stiel vom Schrubber immer abbreche, da helfe eine Fachberatung bei einer Reinigungsfirma, die würden einem alles zusammenstellen, mit K17 als Reinigungsmittel. Mit Profigeräten mache sogar Fensterputzen Spaß. Das sei typisch männlich, sich für alles ein Gerät zu kaufen, eine Bohrmaschine, die könne man doch auch borgen. Wenn man mit einer für dreihundert Euro fünf Löcher bohre, koste jedes Loch sechzig Euro, mit jedem weiteren Loch sinke der Wert der Löcher, die man besitzt, also besser, man verzichte auf neue. Die Rheinländer hätten immer Blumentöpfe auf »die« geworfen, womit sie die Nazis meinten, das sei aber ein Mythos, in Wirklichkeit hätten sie genauso mitgemacht, die Polizei habe sogar Menschen in Kirchen getrieben und verbrannt. Ob man am fünfhundert Jahre alten Skelett einer Päpstin erkennen könne, daß sie kleine Brüste hatte. Der Tintenfisch müsse eigentlich Tintenschnecke heißen, wie der Schraubenzieher Schraubendreher. Komisch, daß die Natur etwas dem Menschen so nützliches wie Tinte ins Meer verbannt habe. Wenn am Nordpol der Sozialismus eingeführt worden wäre, wäre binnen kurzem das Eis knapp geworden. Woran man Ossis erkenne, wo sie sich ja nicht mehr so auffällig kleideten. Aber sie würden sich eben immer noch instinktiv überall anstellen.
Die Welt der Guermantes, S. 334–354
Und endlich bricht Marcel auf! hundertzwanzig Seiten für einen Salonbesuch! Aber plötzlich huscht Charlus herbei und zieht ihn zur Seite, er will ihn begleiten und hakt sich bei ihm unter. Marcel sei für ihn ein » menschlicher Setzling «. Er suche
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