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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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natürlich anstrengend, immer im Dienst zu sein. Während alle anderen entspannt durch ein Gebirge wandelten, das von Goethes Spaziergängen geweiht worden war, mußte Goethe sich ständig einsam durch völlig ungeweihtes Gelände vorarbeiten. Er war überall der erste, und wenn nicht der erste, so doch der erste von Bedeutung, eben der erste Goethe. Es mußte ihm ja direkt Angst gemacht haben, irgend etwas in die Hand zu nehmen und es dadurch unwiederbringlich mit der Aura eines Heiligtums aufzuladen, auch wenn er nach etwas ganz anderem gesucht hatte.
    Unklares Inventar:
    – Kaudinisches Joch, ein Kleid aus weißem Surah, Charron-Automobile.
    Verlorene Praxis:
    – Ein leichtes, trockenes Glucksen in der Kehle vollführen, zum Beweis dafür, daß man den Geist eines Verwandten goutiert.
    70 . Do, 28.9., Berlin
    Im letzten Winter haben meine Tochter und ich uns vor dem Schneeregen in ein buntes Spielplatzhäuschen geflüchtet, auf dessen Wände größere Kinder geschrieben hatten: »Alle von euch Pennernutten sind Nutten!« Wir waren die einzigen auf dem Spielplatz. Das Häuschen hatte weder einen Fußboden, noch Türen oder Fenster, und jeder, der versucht hätte, darin einzuziehen, wäre von der Polizei abgeholt worden. Trotz dieser Mängel war es ein Häuschen, weil man rausgucken konnte. Abstraktion gilt ja eigentlich als Vergnügung höherer Intelligenzen, dabei sind Kinder darin viel virtuoser. Mit Sand und zwei Stöckchen kann man »Nudeln-mit-Tomatensauce-und-Hustenbonbons-Essen« oder »Zähneputzen« spielen, und es wirkt nicht unrealistischer, als in der Kirche in Gestalt einer Oblate Jesus zu verspeisen. Wenn mir diese Fähigkeit zur Abstraktion nicht verlorengegangen wäre, könnte ich jederzeit in meiner Wohnung »Im-Central-Park-Penthouse-Wohnen« spielen, meine Zimmerpflanzen – alles Ableger eines einzigen, hartnäckigen Grasgewächses – wären meine Haremsdamen und die Bücher an den Wänden wären alle von mir selbst geschrieben, und das, obwohl ich eigentlich Kranführer bin. Und immer, wenn mir jemand auf die Nerven geht, würde ich wie der eine Junge im Kindergarten sagen: »Ich spiel jetzt, daß ich nicht da bin.« Ein Spiel für eine Person und eine Menschheit.
    Die Welt der Guermantes, S. 314–334
    Wieder eine Ernüchterung: in der Stimme des deutschen Fürsten vernimmt er nicht, wie erwartet » das Raunen der Elfen und den Tanz der Gnomen «, sondern den gleichen Akzent wie bei einem elsässischen Portier. Wie enttäuschend müssen wir Deutschen, die wir uns ja auch schon selbst so auf die Nerven gehen, erst für den Rest der Welt sein.
    Wir erfahren, daß Onkel Adolphes Sohn kürzlich zu Marcel gekommen ist, um ihm einige Erinnerungsstücke zu bringen, die der Onkel ihm vor seinem Tod zurückgelegt hatte, weil er sie » für ungeeignet hielt, sie meinen Eltern zu schicken, von welchen er aber glaubte, sie würden für einen jungen Mann meines Alters von Interesse sein «. Was könnte das sein? Briefmarkenalben? Eine Campingaxt? Ein Gummimotorflugzeug? Nein: » Es waren Photographien von berühmten Schauspielerinnen und großen Kokotten, die mein Onkel gekannt hatte. «
    Mit Saint-Loup ist nicht viel anzufangen. Wie vor ihm schon Swann und Marcel, verzehrt er sich völlig in seiner Leidenschaft zu einer Frau, die nicht sein Genre ist. Was hilft es da zu wissen, daß wir uns immer unter unserem Niveau verlieben? » Tatsächlich schien Roberts Blick immer wieder in eine Tiefe abzugleiten, die er dann sofort wieder verließ wie ein Taucher, der auf den Grund gekommen ist. Dieser Grund, dessen Berührung für Robert so schmerzhaft war, daß er sich gleich darauf wieder zurückschnellte, um einen Augenblick später wieder zu ihm hinabzusinken, war die Vorstellung, daß er mit seiner Geliebten gebrochen habe. «
    Aber so ein aus Selbstschutz und Stolz herbeigeführter Bruch könnte ja auch ein großer Fehler sein. Vielleicht tut man ihr Unrecht? Er ist auch schon dabei, die Sache umzudeuten: » Sogar bei Zerwürfnissen zwischen einem guten Mann und einer bösen Frau, und sogar wenn das Recht ganz klar auf seiner Seite ist, kommt es doch immer vor, daß eine ganz unbedeutende Angelegenheit der Bösen den Anschein gibt, in einem Punkte wenigstens doch nicht ganz unrecht zu haben. Da die Frau alle anderen Punkte aber übergeht, wird, wofern der besagte Gerechte sie irgendwie braucht und unter der Trennung leidet, sein geschwächtes Selbstgefühl ihn gegen sich selber einnehmen, er wird sich der

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