Schmidts Einsicht
womöglich demütigende Verzögerung ans Ziel zu kommen. Man könnte sagen, daß ich ein Antisemit allein aus Gründen der Ästhetik war! Er lachte angespannt, weil er Townsends ausdruckslosen Blick wahrnahm.
Verstehe, sagte Dr. Townsend.
Ja, sagte Schmidt, auch Sie finden mein Feigenblatt zu klein. Nun gut. Fahren wir fort mit den Traumata, die Charlotte womöglich anschließend erlitten hat. Ich muß wohl meine Liaison mit einer sehr jungen – zwanzigjährigen – und sehr schönen halb-puertoricanischen Kellnerin dazuzählen, die nach dem Krach mit Charlotte wegen des Hauses oder etwa zur gleichen Zeit begann und mehr als zwei Jahre dauerte. Ich weiß, daß Charlotte Anstoß daran nahm. Ob es ein Trauma war, kann ich nicht sagen. Ich erwähne es der Vollständigkeit halber. Andere Traumata: Jon Rikers Affäre mit einer Art Assistenzanwältin in seiner Kanzlei und eine enorme, nicht damit zusammenhängende Indiskretion oder Schlimmeres, die mit seinem Hinauswurf aus der Kanzlei endete. Charlottes Affäre mit einem Kollegen in der Werbeagentur, in der sie arbeitete, ging auch schlecht aus. Sie wollte ein neues Unternehmen mit ihm aufbauen – mit meinem Geld, er hatte keins –, als er sie aus heiterem Himmel verließ und wieder zu der Frau zurückkehrte, von der er geschieden war oder sich scheiden lassen wollte. Das eine oder das andere, genau weiß ich es nicht mehr. Charlotte und Riker zogen wieder zusammen, aber ich könnte mir vorstellen, daß die Ehe allen Schmelz verloren hatte. Die Kanzlei, in der er jetzt arbeitet, kann meiner alten Firma Wood & King, in der er eine Lebensstellung gehabt hätte, nicht das Wasser reichen. Und die Eltern Riker – hier plaudere ich vielleicht aus derSchule – erscheinen inzwischen sehr viel weniger wohlhabend, als sie früher einmal waren, und das hat ausgelöst, was ich nur einen Raubüberfall auf Charlottes Geld nennen kann. Dieses Jahr im April dann kam Charlotte seltsamerweise mit einem Ölzweig zu mir. Wir schlossen Waffenstillstand. Der endete mit einem neuen versuchten Geldraub von seiten Jons. Er hatte die Chuzpe – vielleicht sollte ich das Wort nicht verwenden –, von mir zu verlangen, ich solle einen Fonds für das ungeborene Kind einrichten, das mein Enkelsohn geworden wäre. Als ob irgend etwas an meiner Geschichte mit Charlotte ihren Mangel an Vertrauen in meine Großzügigkeit rechtfertigen könnte!
Er hielt einen Moment inne, bevor er weiterredete. Und damit sind wir bei der Fehlgeburt. Ich möchte aber doch noch ein Wort sagen. Renata Rikers Rolle in diesem Spiel war schändlich, ihr Verhalten ist unverzeihlich.
Mr. Schmidt, sagte Dr. Townsend milde, ich habe nichts dagegen, daß Sie Ihrem Ärger über Renata Riker oder wen auch immer Luft machen, aber ich hatte Sie gebeten, Charlottes Traumata zu beschreiben. Ich danke Ihnen für die Informationen, die Sie mir gegeben haben. Ich muß sagen, Ihr Denken ist bemerkenswert gut organisiert. Jetzt werde ich Ihnen über Ihre Tochter berichten, soweit ich das kann.
Er las Schmidt aus seinen Aufzeichnungen vor, daß Charlottes Krankheit auf der Skala ein oder zwei Punkte unterhalb einer schweren Depression liege. Die Taxonomie schätzte er sowenig wie Myron Riker. Charlotte beginne, auf die Medikation zu reagieren, sei aber verärgert über die unvermeidlichen Nebenwirkungen: Müdigkeit, Teilnahmslosigkeit (die den Symptomen der Depression verwandt seien) und natürlich eine gewisse Gewichtszunahme. Nicht signifikant, aber doch merklich; im Lauf der Zeit werde sie diese Pfunde wieder loswerden. Anfangsdeutlicher Antagonismus gegenüber seiner WASP-Prägung, wie sie es nannte. Damit sei es vorbei, und er beobachte statt dessen eine positive Übertragung. Charlottes Ego, ihr Selbstgefühl, scheint erstaunlich anfällig. Sie wankt unter einer Bürde von Schuld und Unsicherheit – das sei, sagte Dr. Townsend, was er sich notiert habe, wortwörtlich. In allen Fällen ausgeprägter Depression sei Suizid die größte Gefahr und ein Grund zur Besorgnis. In Charlottes Fall sei seine Sorge jedoch durch den stationären Aufenthalt gemildert, und er glaube, daß sich die Gefahr zu dem Zeitpunkt, da sie Sunset Hill verlasse, wesentlich verringert haben werde. Prognose: im ganzen gut. Nach einer Weile – quantifizieren könne er nicht, was er damit meine – werde er die Dosierung der Medikamente allmählich reduzieren, mit dem Ziel, Charlotte irgendwann nach der Entlassung ganz zu entwöhnen. Er rechne damit,
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