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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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empfehlen zu können, sie vor Weihnachten nach Hause zu entlassen. Aber das sei nicht mehr als eine Vermutung; es könne auch erheblich länger dauern, bis sie soweit sei. Von diesem Zeitpunkt an würde er Therapie und Beobachtung empfehlen – genau gesagt, zwei Therapiestunden pro Woche –, bei ihm oder einem anderen Psychiater, der qualifiziert sei für medikamentöse sowie therapeutische Behandlung. Wieder mit der Arbeit zu beginnen sei Charlotte wichtig; sehr zu empfehlen, dürfe aber nicht übereilt werden.
    Während Schmidt diesem netten, rationalen, attraktiven Mann zuhörte, fragte er sich, wie wohl seine Eltern waren. Eltern mußte er irgendwo haben; er sah nicht aus und klang nicht wie ein Findelkind oder jemand, der von Anfang an bei Pflegeeltern aufgewachsen war. Eltern oder ein Äquivalent lauerten immer irgendwo, wie Küchenschaben. War dieser nette, ausgeglichene Mann bei der Geburt gegen das Elterngift geimpft worden? Oder stand er selbst unter Medikamenten, sorgfältig überwacht voneinem Townsend-Doppelgänger aus der Casting-Agentur, damit dieser nette Townsend nicht in seiner netten Carnegie-Hill-Maisonette explodiert, seine nette, tüchtige Frau anfällt, die netten Kinder schlägt, wenn sie aus Chapin und Buckley heimkommen, und sich dann an seinen Hosenträgern aufhängt – Schmidt hätte schwören können, daß es bestickte Turnbull & Asser-Produkte waren –, die garantiert Dr. Tonwsends schätzungsweise hundertfünfundfünfzig Pfund Knochen und Muskeln halten würden. Ja, so würde er es machen: das Ende der Hosenträger, das er sich nicht um den Hals geschlungen hat, am Geländer festbinden, sich über die Seite gleiten lassen, und puff. Die Luft ist raus aus Dr. Townsend.
    Ich bin Ihnen wirklich dankbar für Ihre Erklärung und für alles, was Sie für meine Tochter tun, sagte er dem Arzt. Eine naheliegende Frage: Kann ich Charlotte besuchen?
    Ich werde sie fragen. Heute nachmittag sehe ich sie, dann spreche ich mit ihr darüber. Wenn sie auf den Vorschlag eingeht, kümmere ich mich um die Organisation in Sunset Hill. Sind Sie uneingeschränkt abkömmlich?
    Ja, sagte Schmidt. Ich kann an allen Tagen jederzeit dort sein.
    Gut. Meine medizinische Assistentin oder ich werden Sie anrufen. Ich muß Sie aber warnen, der Besuch gestaltet sich womöglich nicht so erfreulich, wie Sie oder Charlotte – in normaler Verfassung – sich wünschen würden. Wenn Sie möchten, lassen Sie mich wissen, wie es war. Hier ist meine Telefonnummer für den Sommer. Ich bin im Aufbruch zu einem kurzen Urlaub.
    Der Termin in Sunset Hill war am Samstag um ein Uhr. Schmidt sah voraus, daß der sommerliche Wochenendverkehr zu den Stränden in beiden Richtungen stark sein würde: Für eine Fahrt, die normalerweise zwei oder zweieinhalb Stunden dauerte, konnte er leicht vier brauchen. In der Nacht davor hatte er schlecht geschlafen; er frühstückte hastig, rasierte sich und bemerkte dabei ein unbeherrschbares Zucken in seiner linken Wange. War das etwa ein kleiner Schlaganfall? Er hatte einen dermaßen trockenen Mund, daß ihm die Zunge am Gaumen klebte. Nur um zu prüfen, ob er dazu in der Lage war, versuchte er miserere mihi zu sagen und mußte feststellen, daß die Wörter ihm als schwaches Krächzen von den Lippen gingen. Fürchte den Tod durchs Wasser, aber Fähren mußte er nehmen: die erste von Sag Harbor nach Shelter Island, die zweite von der anderen Seite der Insel nach Greenpoint an der North Fork und die dritte von Orient Point nach New London. New London! Sitz Hyman G. Rickovers, des Vaters der Atom-U-Boote. Ein antisemitischer Ästhet wird sich bei diesem Namen an die Judenfrage erinnern, darauf kann man sich verlassen! In der Kantine der Fähre waren Massen von Menschen, aber Schmidt drängte sich zur Theke durch. Zwei Würstchen mit Senf und Relish: eine Delikatesse, die er sich – darauf hätte er schwören können – nicht mehr gegönnt hatte, seit er im Frühlingssemester von Charlottes letztem Collegejahr mit ihr und einer Handvoll schlecht erzogener Klassenkameraden zum Red-Sox-Spiel gefahren war. Sie gewannen das Heimspiel tatsächlich! Bier tranken die Jungen und Mädchen damals auch, sie waren schon einundzwanzig, aber selbst wenn sie jünger gewesen wären, hätte sie niemand nach ihrem Ausweis gefragt. Schmidt hätte zu den Würstchen auf der Fähre auch gern ein Bier getrunken, aber die vorausschauende Klugheit riet ihm davon ab und auch von einem Kaffee mit Milch und Zucker, denn

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