Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
Vom Netzwerk:
wo würde er pinkeln gehen können, wenn er wieder an Land war? Am Straßenrand? Sein letzter derartiger Versuch, auf Long Island, hätte ihm fast einen Strafzettel eingebracht. Ein Streifenwagen hattehinter ihm gehalten, ein pickeliger irischer Polizist stieg aus und sagte, er werde ihn wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses aufschreiben. Was soll das, Sie machen wohl Witze, wies Herr Anwalt Albert Schmidt ihn zurecht. Das kam schlecht an: Ich mache Witze, glauben Sie? Ich buchte Sie ein. Hier fahren Frauen und Kinder vorbei, und Sie stehen da und wedeln mit Ihrem Schwengel. Nichts konnte Mr. Schmidt so schnell zur Ruhe bringen wie die Aussicht auf Gefängnis, und hatte er sich erst einmal beruhigt, war er die Umgänglichkeit und Vernunft in Person, so daß kein Polizist umhinkonnte, ihn Sir zu nennen. Einen schönen Tag noch, Sir, kommen Sie gut nach Hause!
    Er war um Viertel vor eins am Empfang von Sunset Hill, hatte wieder vollkommen Gewalt über sein Sprachvermögen, diese Stimme, die tausend Polizisten und tausend Versicherungsanwälte in ihren Bann geschlagen hatte, und hörte sich sagen: Mr. Schmidt für Mrs. Riker. Dr. Townsends Patientin, der Doktor hat die Verabredung getroffen.
    Die Sprechstundenhilfe ließ auf ihrem Computerbildschirm eine Liste abrollen und begrüßte ihn: Hallo, Albert, setzen Sie sich ins Wartezimmer dort hinten. Die Türen zu den Toiletten sind beschriftet. Ich schicke jemanden, Sie zu holen und mit Ihnen in das Besuchszimmer zu gehen.
    Er tat wie geheißen, sowohl was das Pinkeln als auch was das Setzen anging. Im Wartezimmer war er allein. Auf dem niedrigen Tisch vor seinem Platz lagen alte Exemplare des New York Magazine , des U.   S. News and World Report , Men’s Health und des Golf Digest . Er vertiefte sich in eine skandalöse Aufstellung der obszönen Honorare von Schönheitschirurgen in New York. Ein Uhr. Ein Uhr fünfzehn. Er wurde zur Rezeption gerufen. Eine stattliche, nicht mehr junge Dame in Weiß stellte sich als Mrs. Riley vor.
    Mrs. Riker möchte heute keinen Besuch haben, sagte sie. Es tut mir leid, daß Sie den ganzen Weg von …
    Long Island, soufflierte Schmidt.
    Ja, von Long Island gekommen sind. Wie gesagt, es tut uns leid.
    Schmidt schüttelte den Kopf. Wie kann das sein? fragte er. Dr. Townsend hat die Verabredung getroffen.
    Richtig, aber die Patientin will keine Besucher empfangen.
    Und weiß sie, daß ich hier bin? Was hat sie gesagt, als Sie oder eine Ihrer Kolleginnen ihr Bescheid gaben?
    Miss Riley schüttelte den Kopf. Wir wissen, daß dies sehr schwierig ist. Sie sind ihr Vater, stimmt’s?
    Schmidt nickte.
    Mr. Schmidt, Sie sehen aus wie ein netter Mensch. Ich erzähle Ihnen jetzt etwas, was ich nicht erzählen sollte. Als Ihre Tochter hörte, daß Sie da sind, ist sie in den Kleiderschrank in ihrem Zimmer gekrochen und hat sich geweigert, wieder herauszukommen. Nehmen Sie es nicht zu schwer. Ich habe auch eine schwierige Tochter. Diese schlimmen, schlimmen Kinder. Es liegt nicht immer an uns.
    Er dankte ihr – offenbar konnte er sonst nichts tun. Als er wieder zu Hause war, rief er Dr. Townsend an und erzählte ihm, daß Charlotte sich geweigert hatte, ihn zu sehen, ließ aber die Geschichte mit dem Schrank aus. Er wollte der Krankenschwester keinen Ärger machen. Es war ein Test für Charlotte, erklärte der Arzt ihm, und ein Test für Sie. Sie haben offenbar besser abgeschnitten.
    Anfang Oktober fuhr er wieder nach Sunset Hill. Man führte ihn zum Besprechungszimmer, und als er an der offenen Tür stand und sie sah, eine Frau, die sich in einem mit Chintz bezogenen Sessel flegelte, war sein erster absurder und gleich wieder verdrängter Eindruck, daß manihn in das falsche Zimmer geführt habe, daß diese Frau mit dem starren Gesicht, das abgeflacht aussah wie die fahlen Gesichter bestimmter Schimpansen, das Problem eines anderen sei. Aber nein, es war Charlotte, die mit rotgeränderten, spöttischen Augen durch ihn hindurchsah. Die lang ausgestreckten Beine waren unrasiert. Sie trug einen Morgenrock von der Sorte, in die sich seine Mutter während ihrer letzten langen Krankheit fast ständig gehüllt hatte, ein dermaßen abscheuliches Kleidungsstück, daß er dachte, wenn es irgend jemandem gehöre, dann am ehesten einer der Frauen, die in Bürogebäuden Toiletten putzen; dazu braune Ledersandalen, die den Blick auf schmutzige Füße und bestimmt seit dem Unfall nicht mehr geschnittene Zehennägel freigaben. Der Morgenrock war so unförmig,

Weitere Kostenlose Bücher