Schmidts Einsicht
Edelmut klingende Ausrede vorgeschoben, daß er es nicht Charlotte überlassen dürfe, die Nachlässe von Mutter und Vater in Ordnung zu bringen, daß es seine Aufgabe sei, Marys Angelegenheiten zu regeln. Sich zu ertränken kam für ihn immer noch nicht in Frage. Das konnte er nicht, und er wußte es. Genauso gut glaubte er etwas anderes zu wissen: Wenn die Alternative qualvolle Schmerzen waren, die allenfalls gelindert werden konnten mit Hilfe von Prozeduren, die seinen Leibin einen Fleischsack an Schläuchen für Nahrungszufuhr und Entleerung verwandelten, oder wenn ihm Schwachsinn drohte, dann konnte er die kleinen Dinger schlucken und mit dem Alkohol herunterspülen, der ihm zu dem Zeitpunkt am meisten zusagen würde – Wodka, Bourbon, Gin oder auch Kognak, auf den er seit kurzem verzichtete, weil er ihn offenbar wach hielt. Aber wenigstens wäre die Schlaflosigkeit dann kein Problem mehr. Und es war ihm ganz egal, wer hinter ihm aufräumte, ob derjenige nun seine Leiche wegschaffen und neben Marys zersetzten Knochen auf dem Friedhof von Sag Harbor begraben lassen oder seine Schränke leer räumen und den Inhalt in die Brockensammlung nach East Hampton bringen mußte oder seine Nachlaßgegenstände veräußern, ein paar kleine Legate auszahlen und die Fonds für Carries Kinder und für sie selbst finanzieren würde – denn Carrie würde er bestimmt Geld vererben –, um anschließend den Rest der Staatskammer der Vereinigten Staaten, dem Finanzamt des Staates New York und der Universität Harvard zu überweisen. Himmel, er wußte, wer das erledigen würde: dieser Clown Murphy, sein ehemaliger Partner in der Abteilung Treuhand- und Nachlaßverwaltung, der sein Testament und letzten Willen in einem Safe aufbewahrte und damit zu Schmidts Testamentsvollstrecker designiert war. Nein, weder Angst noch eine scheeläugige Vorstellung von noblesse oblige hielten ihn von diesen winzigkleinen Pillen fern. Am Ende war es nur dies: Er entschied sich nicht für Selbstmord, weil er, gut behaust, gut genährt und gut gekleidet, nichts dagegen hatte, am Leben zu sein. Ja, am Leben auf dieser kahlen Granitplatte, auf der einzig Charlotte geblüht hatte. Mit anderen Worten, er war ein Schweinehund.
Ein Schweinehund, der manchmal Zeitung las und gelegentlich fernsah und an Mr. Mansours Tisch ohne dieüblichen Schmidtschen Hemmungen über neue Ereignisse herzog und damit sowohl sich selbst überraschte wie diejenigen, die ihn am besten kannten, das heißt Gil und Mike. Schmidt hatte beobachtet, wie eng allgemeine Katastrophen und Charlottes Leben oder, wie er jetzt meinte, die Stationen von Charlottes Kreuzweg miteinander verquickt waren. Er führte seine Liste weiter und bemerkte, wie jeder neue Greuel an seinem Panzer schweinischer Gleichgültigkeit abprallte. Die mörderische Befriedung Tschetscheniens und die Greueltaten im Kosovo: Wie weit entfernt erschienen sie dem Chef von Mike Mansours Life Centers! Er schloß Wetten ab gegen den Erfolg von Friedensverhandlungen im Nahen Osten und in Irland, denn er war nicht willens, darauf zu setzen, daß Vernunft über Blutdurst und Haß siegen könne. Das Blutbad in Timor, das paßte schon besser. Die Stabilisierung der Wirtschaft in Asien enttäuschte ihn: Wurde es nicht langsam Zeit, all diesen Wichten eine Lektion zu erteilen, so daß sie begriffen, besser fünfzig Jahre Europa als ein Zyklus Cathay? Würden womöglich nicht nur sie, sondern alle aus den Y2K-Katastrophen das rechte Maß lernen? Er las Coetzees Schande . Wie Luries Tochter geschändet wurde, wie sie ihr Schicksal hinnahm, das preßte ihm Tränen ab, als sei er noch zu Bedauern und Mitgefühl fähig. Im Jahr danach rieb er sich vor Schadenfreude die Hände, als er zusah, wie die Dotcom-Blase platzte. Er hatte sich Mike Mansours Rat zu Herzen genommen und nicht in Internettechnologien investiert. Schadenfreude ließ ihn auch wissend nicken, als er über die Intifada las. Der letzte israelische Staatschef, den er bewunderte, war Jizchak Rabin gewesen, den die Juden umbrachten. Geschah ihnen recht, daß sie jetzt statt seiner Ariel Sharon hatten. Aber selbst der Schweinehund, der er geworden war, weigerte sich, über den Bombenanschlag auf die USS Cole zuhöhnen; Schmidt trauerte um die siebzehn Seeleute, die im Golf von Aden den Tod fanden. Er fragte sich, ob man ihre Leichen in Segeltuch gehüllt und im Meer versenkt hatte, ob der alte Brauch noch galt. Was war am letzten Jahr des Millenniums bewundernswert, fragte
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