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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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er sich, als er am letzten Tag, auf dem Höhepunkt der Democratic National Convention, zusah, wie der noch amtierende Präsident in einem dunklen Anzug italienischer Machart selbstbewußt und fit, die fleischige Nase hoch, aus einem endlos langen weißen Tunnel auftauchte und den Fernsehkameras entgegenschritt. Dieses Szenario suggerierte mit Überzeugungskraft eine noch nicht gedrehte Sequenz voller Siegesgewissheit aus Star Wars , das unbeschwerte Schlendern des scheidenden Präsidenten in die Zukunft, nachdem er den langen, mit Betrug gepflasterten Weg vom Wohncontainer seiner Mutter bis zum Oval Office bewältigt hatte. Ein trügerisch glitzernder Schlußstein, passend für acht Jahre Schund und Flitterkram, die prompt zum Aufstieg von W. und Dick und zu acht Jahren der finstersten Regierungskatastrophe in der amerikanischen Geschichte geführt hatten, dachte Schmidt. Tja, die Affären eines narzißtischen Mannes mit Vorliebe für liederliche Frauenzimmer und Fast Food hatten genausoviel Schaden angerichtet wie die Machenschaften Karl Roves oder wie Anthony Kennedys üble Komplizenschaft mit den vier Neandertalern im Obersten Gerichtshof bei der Mehrheitsentscheidung – keiner von ihnen unterzeichnete sie –, die dem Duo erlaubte, sich ins Amt zu drängeln.
    Dienstag, 11. September 2001. Ein makelloser blauer Himmel, ein vollkommener warmer Spätsommertag. Schmidt wäre in Bridgehampton geblieben, hätte er nicht zur Vorstandssitzung der Stiftung fahren müssen. Da es nicht zu ändern war, hatte er sich schon am Abend vorher in der Stadt eingefunden, war früh ins Büro gegangen undbereitete sich auf die Sitzung vor, die um zehn Uhr anfangen sollte. Seine Sekretärin Shirley kam um kurz nach neun in sein Zimmer, um guten Morgen zu sagen und ihm einen Kaffee anzubieten.
    Übrigens, sagte sie noch, eins von diesen nervtötenden kleinen Privatflugzeugen ist in einen Turm des World Trade Center gerasselt. Da, wo es aufgeprallt ist, kommt Rauch aus dem Gebäude. Wenn Sie zur Rezeption gehen, können Sie es gut sehen.
    Schmidt warf einen Blick auf seine Papiere. Mit der Arbeit war er praktisch fertig. Er ging den Korridor im 48. Stock entlang, dorthin, wo schon viele Angestellte von Mansour Industries versammelt waren, zur Südspitze Manhattans blickten und auf den qualmenden Turm starrten; und dann raste das zweite Flugzeug in den zweiten Turm. Niemand glaubte mehr, daß ein Anfänger in seiner Piper oder Cessna schuld sei. Die Trader, die zwei Drittel des 48. Stocks besetzten und auf ihren Computern die Meldungen der Madrider Zeitung El Mundo verfolgt hatten, da andere Webseiten unzugänglich waren, stürzten mit den Neuigkeiten herein; jemand brachte einen Fernsehapparat und fand einen deutschen Sender. Auf dem Bildschirm sah man winzig klein wirkende Personen in großer Höhe aus den beschädigten Gebäuden herausspringen, manche Hand in Hand. Jemand schrie: Schaut! Schaut! Schmidt wandte sich vom Bildschirm ab, um nach Süden zu blicken, und vor seinen Augen stürzte der eine und kaum eine halbe Stunde später der zweite Turm in sich zusammen. Dann kam die Nachricht, daß ein Flugzeug ins Pentagon geflogen und ein anderes in Pennsylvania in ein Feld gestürzt sei. Und die Passagiere in diesen Flugzeugen, Männer, Frauen, Kinder – fest angeschnallt –, die auf den Moment des Aufpralls warteten, im Wissen, daß sie in den Flammen des brennenden Kerosins sterbenmußten. Schmidt merkte, daß er seine Gedanken nicht von ihnen lösen konnte, als sei er in einem Alptraum gefangen, aus dem er nicht aufwachen konnte. Beteten sie? Umarmten Fremde über Armlehnen hinweg andere Fremde auf den Nachbarsitzen? Tauchte alles, was ihnen in ihrem Leben lieb und wert gewesen war, für einen Moment aus ihrem Gedächtnis auf? Manche der Kinder hatten sicher begriffen, aber die anderen? Die Kleinkinder? Weinten sie so sehr, daß ihr Jammern in den Kabinen der Flugzeuge widerhallte? Besänftigte es die Mörder, oder war es für sie ein Vorgeschmack auf das Paradies?
    Die Macht der Gewohnheit? Eine automatische Reaktion anderer Art? Schmidt ging hinunter zum Sitzungsraum. Dort war Mr. Mansour, zusammen mit Holbein, der in dem Gebäude arbeitete, und drei andere Direktoren, die sagten, sie seien gestrandet. Sie seien um die Zeit, als es passierte – das Pronomen es war bereits zum Schibboleth geworden –, im Gebäude angekommen, und jetzt? Unklar, was man jetzt machen sollte. Mike ging kurz hinaus und kam mit einem Angestellten aus

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