Schmidts Einsicht
dem Speisesaal wieder, der ein Tablett mit Whiskeyflaschen, Gläsern und Eiswürfeln trug. Drinks wurden ausgeschenkt, und dann ging Mike im Zimmer herum und umarmte die Direktoren einen nach dem anderen. Plötzlich und widersinnig fielen alle einander in die Arme, klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Die Frage ist, sagte Mr. Mansour, die Frage ist, was wir als nächstes machen. Sollen wir hier Mittag essen? Wohl nicht. Ich stelle es allen im Haus frei, heimzugehen, wenn sie können. Wenn nicht, sollen sie sich auf Kosten der Firma ein Hotelzimmer nehmen oder hier schlafen. Mahlzeiten gehen auch auf Rechnung der Firma. Der Chef der Sicherheit hat nachgefragt. Man kann sich in Manhattan frei bewegen, nur nicht downtown, aber die Stadt kann man nicht verlassen. Die Brücken sind gesperrt, und die U-Bahnen fahren nicht. Man kann telefonieren, aber nicht alle Fernmeldeämter erreichen. Mobiltelefone funktionieren offenbar nicht. Schmidtie, sagte er, ohne daß es die anderen hören konnten, laß uns so bald wie möglich auf die Insel fahren. Wahrscheinlich geht es morgen. Sieh zu, daß ich dich finden kann.
Das hat Mike gut gemacht, dachte Schmidt. Wenn sie meinten, sie müßten aus einem Fenster springen, konnten auch sie einander an der Hand halten.
Sein Büro war leer, als er zurückkam. Shirley war gegangen. Er prüfte sein Telefon. Es funktionierte. Aber er hatte keinen Menschen, den er jetzt anrufen konnte. Carrie? Sie machte sich nicht so leicht Sorgen; beruhigen mußte er sie nicht. Mit ihr über »es« reden? Das überstieg zur Zeit seine Sprachfähigkeit. Als er Papiere zusammensuchte, um sie in seine Aktentasche zu packen – zu welchem Zweck eigentlich? –, schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. War Jon Rikers Kanzlei nicht in einem der Türme? Er erinnerte sich an den Namen der Kanzlei und blätterte mit zitternden Händen im Telefonbuch. Offenbar waren sie umgezogen, als Adresse war ein Gebäude unten am Broadway angegeben, eines dieser riesigen alten Bauwerke; früher hatte er dort an Sitzungen teilgenommen. Nein, da war niemand, den er anrufen, niemand, zu dem er gehen konnte. Sein Club hatte vielleicht geöffnet, aber wer würde dort sein? Andere Wracks wie er? Ein Elend dieser Art scheut Gesellschaft. Er beschloß, nach Hause zu gehen. Nach Hause in die Firmenwohnung. Inzwischen war es ein sonniger Nachmittag geworden. Abgesehen von der Rauch- und Rußwolke über dem Scheiterhaufen im Süden war der Tag so schön und warm, daß man sich hätte glücklich schätzen und die überall herrschende Ruhe wie einen Ferientag genießen müssen, so leer waren die Straßen, so viele Väter, deren Büros geschlossen hatten, gingenHand in Hand mit ihren Sprößlingen oder schoben Kinderwagen. Warum an seinem Mietshaus anhalten, sich ins Wohnzimmer setzen und bis zur Bewußtlosigkeit trinken? Er lief weiter nach Norden, bis er eine lange, zwei oder drei Querstraßen weit reichende Schlange von Menschen erreichte, die darauf warteten, im Lenox Hill Hospital Blut zu spenden.
Alle Altersgruppen und Schichten waren vertreten, alle möglichen Arten von Kleidung und Verhalten, alle warteten mit unendlicher Gutwilligkeit, um ihre Pflicht als Bürger, als Menschen zu tun. Vollkommen unerschütterlich: Einige besonders Vorsorgliche hatten Klappstühle und -tische mitgebracht, aber die Schlange bewegte sich so langsam vorwärts, daß sie ihr improvisiertes Quartier nur selten verrücken mußten. Sie spielten gesellig Karten. Gin Rommé war anscheinend besonders beliebt, aber Schmidt sah auch Gruppen, die Bridge und Poker spielten. Eine oder zwei Yuppie-Gruppen in der bequemen Freitagskleidung, die jetzt die ganze Woche über im Büro getragen wurde, saßen im Schneidersitz auf dem Gehweg und hatten die Karten vor sich ausgebreitet. Er stellte sich in die Schlange. Vielleicht eine Stunde später wurde an einem der Tische ein Stuhl frei; jemand hatte das Warten aufgegeben. Vielleicht wegen seines Alters, das vermuten ließ, er könne Bridge spielen, oder aus einem anderen Grund stand eine junge Frau auf, fragte Schmidt, ob er mitspielen und die Strohmannkarten übernehmen wolle. Er dankte ihr und setzte sich. Ein großer schwarzer Mann in Portiersuniform versicherte ihm, er brauche sich keine Sorge zu machen, den Platz in der Schlange werde er ihm freihalten. Wie freundlich von ihm! Schmidt umarmte ihn. Eine Zeitlang hatten Mary und er regelmäßig gespielt, und in seinem Kopf ratterten noch Erinnerungen an
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