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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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schleichen sich ein und töten. In der Anzeige stand nichts über die Todesursache, und sie enthielt auch nicht die sonst üblichen Adressen, an die man Spenden statt Blumen schicken konnte. Und sie sagte nichts über ein Begräbnis oder eine Gedenkveranstaltung. Damals war der Tod eines Partners von W & K noch gut für einen Nachruf in der Times , oft mit Foto. Man mußte noch kein an Demenz leidender Quarterback oder ein einhundertzwei Jahre alter Jazzmusiker sein. Ein Anruf von einem Familienmitglied oder dem leitenden Partner der Firma genügte, und vielleicht bot man noch an, die im Who’s Who verzeichneten Informationen mit einer Anekdote zu ergänzen. Aber in der Zeitung erschien nichts über Verplanck, nicht einmal eine der Todesanzeigen, die W & K normalerweise formulierte und bezahlte, ganz gleich ob es einen Nachruf gab oder nicht. War diese Aufgabe womöglich zwischen zwei Stühle gefallen, weil Tim in den letzten zehn Jahren in Paris gelebt hatte und auch seine Witwe dort wohnte und weil dieser Rohling Jack DeForrest, der leitende Sozius, neidisch auf Tims befremdlich frühen Ruhestand gewesen war?
    Schmidt meinte, zum letzten Mal habe er Tim auf dem Empfang des Union Clubs gesehen, im Anschluß an den Trauergottesdienst für Dexter Wood in der St.-James-Kirche, zu deren Gemeindevertretern dieser Titan des Rechts gehört hatte. Er hatte Tim mit seiner schlanken hochgewachsenen Gestalt, dem rotbraunen Haarschopf, dem sonnengebräunten Gesicht und dem ständigen spöttischen Ausdruck gleich entdeckt; er fiel in der Phalanx der Wichtigtuer in marineblauen Anzügen, weißen Hemden und schwarzen Krawatten, der Uniform, die männliche W & K-Partner bei solchen Gelegenheiten trugen, sofort auf. Tim und er unterhielten sich kurz. Nein, Alice habe nicht nach New York mitkommen können, ihre Mutter sei krank. Aber ihm und Alice gehe es gut. Hervorragend, hatte er sogar gesagt. Ob Schmidt und Mary nicht mal nach Paris kommen wollten? Dann verabreden wir uns zu einem schönen Dinner à quatre . Nachdem er die Frage gestellt hatte, lachte Tim, ha, ha, ha, die verblüffende, überschäumende Koda, mit der er seine Äußerungen meistens abschloß. Freut mich wirklich, dich zu sehen, ha, ha, ha! Habe die ganze Nacht gebraucht, um diesen Schriftsatz zu verfassen, aber hier ist er, ha, ha, ha! Joe Jones hat angerufen, er schustert uns eine neue Transaktion zu, ha, ha, ha! Nein, zu eurem Dinner können Alice und ich nicht kommen, wir essen mit dem Präsidenten von Yale, ha, ha, ha! Weiter als »kommt nach Paris, ha, ha ha!« war ihre Unterhaltung nicht gediehen, denn Lew Brunner, der New Yorker Seniorpartner, mit dem Tim in den letzten Jahren am engsten zusammengearbeitet hatte, schob sich zwischen sie und fing an, mit Tim Klatsch über Mandanten und Abschlüsse auszutauschen, der Schmidt nicht interessierte. Wie bald danach war Tim ausgeschieden? Ein Jahr später, vielleicht anderthalb? Kurz vor Marys erster Operation war es wohl gewesen. Schmidt war sechzig geworden undhatte in aller Eile seinen Ruhestand in die Wege geleitet. Er wollte in der Zeit, die ihr noch blieb, bei ihr sein, eine kurze Spanne, das wurde ihnen schnell klar.
    Aber nichts, absolut nichts hatte auf Tims Entscheidung hingedeutet. Das Mindestalter von sechzig Jahren, den Zeitpunkt, zu dem die Partner nach Firmenplan in den Ruhstand gehen durften, hatte er noch längst nicht erreicht. Er war ein beliebter und hart arbeitender Sozius. Niemand hatte gewollt, daß er geht. Als Jack DeForrest, früher im selben Jahr leitender Partner geworden, beim Firmenessen die Modalitäten für Tims Abfindung erläuterte, gab er als Erklärung nur an, der junge Verplanck wolle ein Buch schreiben. Daraufhin hob einer der neuernannten Partner die Hand und fragte, warum es überhaupt angemessen sei, einem Sozius ohne Gesundheitsprobleme, der sich mit fünfzig entschließe, in den Ruhestand zu gehen, eine Abfindung zu zahlen. DeForrest fuhr ihm so über den Mund, daß er keinen Ton mehr sagte. Er habe den Deal abgeschlossen und sei nicht bereit, sich vor einem Grünschnabel dafür zu rechtfertigen. Unterdessen mokierte sich gut die Hälfte der am Tisch Sitzenden: Verplanck habe immer mehr Geld gehabt, als ihm guttat. Warum in aller Welt sollte der arbeiten wollen? Prompt eintretende selektive Amnesie: Als der Nachtisch serviert wurde, hatten alle vollkommen vergessen, daß Tim als Mitarbeiter regelmäßig eine Rekordzahl anrechenbarer Stunden zusammengetragen und als

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