Schmidts Einsicht
durcheinander, noch mehr als sonst. Das ist Alice Verplanck. Sie ist Lektorin bei Éditions du Midi, Joes französischem Verlag, wie sie mir sagt.
Ja, die haben alle meine Bücher veröffentlicht, meldete sich Joe. Alice Verplanck, Alice Verplanck, ja richtig, die Freundin meines Lektors Serge Popov. Und zu Caroline gewendet: Was macht sie denn hier mit dem pensionierten Anwalt Schmidt?
Sie besucht mich, Joe, erwiderte Schmidt. Und zu Ihrer Information; Serge ist tot, in diesem Jahr gestorben.
Sie gingen schweigend zum Auto, aber sobald sie aus der Einfahrt heraus waren, hörte Schmidt, daß Alice schluchzte. Was für ein grauenvoller Mann. Wie konnte er nur!
Es ist in Ordnung, beruhigte Schmidt sie, alles in Ordnung, wirklich. Canning ist ein gräßlicher Mensch. Aber sein Theater heute abend hat womöglich etwas damit zu tun, daß er krank ist. Elaine hat mir erzählt, daß er Alzheimer hat. Ich habe ihn nie ausstehen können, egal ob er krank oder gesund ist.
So wenig wie ich deinen Popov ausstehen konnte, wollte er gerade sagen, da erklärte sie: Weißt du, Serge konnte ihn auch nicht leiden. Er fand nur seine Bücher gut.
Spricht für Popov, dachte Schmidt, und gut für Alice. Die Wunde heilt, vielleicht ist es schon soweit.
Als sie nach Hause kamen, war es schon kurz vor ein Uhr morgens. Komm, Alice, Süße, sagte er zu ihr, es ist gut. Wir haben sogar Canning überstanden. Laß uns was trinken.
Dann erinnerte er sich. Solltest du nicht deinen Sohn anrufen? fragte er.
Um diese Zeit? Sie schien überrascht zu sein.
In Melbourne ist es Nachmittag.
Danke! Du hast recht. Mich hätte er nicht anrufen können, sagte sie mit einem Kichern. Er weiß nicht, daß ich bei einem alleinstehenden Herrn wohne. Danke dafür! Er ist sicher am Strand, aber ich spreche ihm eine Nachricht aufs Band.
Dann war Tommy doch am Telefon. Schmidt ging in die Küche, holte eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank, stellte sie auf ein Tablett, zwei Gläser dazu, und wartete, bis Alice fertig war. Dies war ein erster Schritt gewesen. Von jetzt an wollte er sich jede Stunde und jeden Tag um sie kümmern, wenn sie es nur zuließe. Sie tranken auf das neue Jahr und fummelten – anders konnte man es kaum nennen – dann im Dunkeln auf dem Sofa in der Bibliothek, während im Kamin ein Feuer knisterte und der Connecticut-Sender Glenn Goulds Aufnahme der Goldbergvariationen spielte. Irgendwann, er achtete schon nicht mehr auf die Digitaluhr im Bose-Lautsprecher, erinnerte sie ihn daran, daß es schon spät war und daß sie beide müde seien. Zeit, schlafen zu gehen.
In mein Bett, flüsterte er.
Ja, aber nur zum Kuscheln.
Und dann fügte sie hinzu: Ich bin recht zufrieden mit dir. Ich glaube, ich behalte dich. Und werde dich wohl nicht umtauschen. Aber wir müssen weiter nachdenken, überlegen, wo wir gewesen sind und wie es weitergehen soll. Abgemacht?
Unverhofftes Glück und anschließend ein paar Stunden traumloser Schlaf. Hellwach und erfrischt, zog Schmidt leise Pyjama und Bademantel an und ging hinunter in die Küche. Er trank den Rest Champagner und streckte sich dann auf dem Sofa in der Bibliothek aus. Sie hatte ihn gebeten, ihrer beider Geschichte noch einmal zu überdenken. Ja, das würde er tun, obwohl er schon unzähligeMale darüber gegrübelt hatte und nie intensiver als in den letzten Monaten, seit er von dem grotesken Unfall erfahren hatte, Popovs Todessturz von einem dieser Fahrräder, die jeder Dummkopf fast überall in Paris leihen konnte. Gil, der in den Jahrgangsnotizen des Harvard-Monatsheftes gelesen hatte, daß Popov gestorben war, hatte ihm die Nachricht weitergegeben. So hatte sich der Tod noch einmal eingemischt, um Alices Leben mit dem seinen zu verknüpfen. Zuerst hatte er Alices Ehemann Tim Verplanck hinweggerafft und dann in einem bizarren Ausfall Popov. Und beim Nachdenken über Alices und seine Geschichte würde Schmidt sich auch andere, damit verflochtene Begebenheiten über die Jahre der Leere hinweg wieder in Erinnerung rufen.
III
Als W & K damals im Februar 1995 allen aktiven und pensionierten Partnern die Anzeige vom Tod Tim Verplancks zuschickte, war Schmidt erschüttert. Tim konnte nicht älter als vierundfünfzig sein, dachte er, so jung und so gesegnet mit allem, was einen Mann glücklich machen sollte! Dazu noch – allem Anschein nach – mit ausgezeichneter Gesundheit. Schmidt wußte, daß es Krankheiten gibt, gegen die auch die moderne Medizin immer noch machtlos ist. Sie
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