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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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da sein Vater, der seinen gallebitteren Antikatholizismus hinuntergeschluckt hatte, um den Vorteil einer erstklassigen Erziehung zum Schnäppchenpreis nutzen zu können, ihn in eine Jesuitenschule an der Upper East Side von Manhattan geschickt hatte, aber er hielt die Zunge im Zaum.
    Unser Leben spielte sich ein. Tim machte Überstunden, blieb sogar noch länger im Büro als davor in New York. Oft kamen mehr Aufträge, als das Büro bewältigen konnte. Ich kümmerte mich darum, daß die Kinder sich an das französische System anpaßten und ihre Hausaufgaben machten, und ich versuchte, einen Pariser Haushalt zu führen. Meine Eltern hatten ein kleines, aber sehr hübsches Haus – einen pavillon de chasse – bei Chantilly, nördlich von Paris, das sie uns überließen. Wenn das Wetter angenehm war, fuhren wir Samstag nachmittag hinaus und blieben bis Sonntag abend. Man kann dort sehr schöne Spaziergänge im Wald machen, den der französische Staat in Ordnung hält; abgestorbene Bäume und heruntergefallene Äste werden weggeräumt und die Wege freigehalten. Alle waren gern dort, auch Bruno, der regelmäßig mitkam. Es stellte sich heraus, daß er gern auf die Jagd ging, wie Tim, also schossen sie während der Jagdsaison gemeinsam Vögel. Wenn die Kinder sich erkältet hatten oder zu Geburtstagen eingeladen waren, blieb ich mit ihnen in Paris, und Tim und Bruno fuhren allein nach Chantilly. So blieb alles heiter und gelassen bis zu dem furchtbaren Sommer 1985.
    Sie fing wieder an zu weinen. Sie waren schon lange vom Tisch aufgestanden und in die Bibliothek zurückgegangen, und wieder humpelte Schmidt zum Sofa, legte ihr den Arm um die Schultern und versuchte sie zu trösten.
    Danke, sagte sie, du weißt vielleicht nicht, was passiert ist.
    Er schüttelte den Kopf.
    Sophie fuhr in diesem Sommer ins Ferienlager. Camp Horned Owl in Maine, ein Ferienlager für Mädchen, das schon seit hundert Jahren beliebt und berühmt ist. Für Sophie war es das dritte Mal, und sie freute sich wirklich darauf. Ihre beiden besten Freundinnen aus der Brearley-Schule wollten auch kommen. Meine Mutter war in sehr schlechter Verfassung, also war klar, daß ich Bar Harbor ausfallen lassen mußte. Aber Tim sagte, er würde Sophie im Juli nach Horned Owl bringen, so daß sie da wäre, wenn das Ferienlager anfing, dann nach Paris zurückgehen, bis Anfang August arbeiten und anschließend zum Segeln mit Bruno nach Bar Harbor fahren; Sophie sollte nach dem Ferienlager bei ihnen sein, und sie würden sie dann nach Paris bringen. Ich bin gleich nach Schulferienbeginn Anfang Juli mit Tommy und unserem Au-pair-Mädchen nach Antibes gefahren. Ich wollte bei meinem Vater sein, abwechselnd mit ihm meine Mutter unterhalten, ihr vorlesen, CDs auflegen – sie hörte sehr viel Musik – und gelegentlich mit ihr Fernsehprogramme anschauen. Das war mehr als eine Ganztagsarbeit, weil sie nachts kaum schlief und Gesellschaft brauchte. Um ihre Körperpflege kümmerten sich Krankenschwestern. Zu dieser Zeit war sie vollkommen gelähmt, konnte aber noch atmen, kauen und schlucken, und sie sprach noch, aber nur sehr leise. Man konnte sie kaum verstehen. Wir warteten auf das Ende, den Zeitpunkt, da sie eine Tracheotomie oder ein Atemgerät brauchen würde. Sie hatteentschieden – wir hatten alle drei entschieden –, daß wir sie dieser Quälerei nicht aussetzen würden, sie sagte, sie würde nichts mehr essen und trinken und den Kopf zur Wand drehen, nur daß sie das dann gar nicht mehr konnte, sie war bewegungsunfähig. Schmidtie, du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer Sterben ist, wie schwer es fällt, einen Menschen zu töten, auch wenn es eine noch so kranke, schwache, gelähmte alte Dame ist. Oder weißt du es? Mußtest du das mit deinen Eltern durchmachen?
    Nein, erwiderte Schmidt. Mein Vater ist ganz plötzlich an einem Schlaganfall gestorben und meine Mutter im Krankenhaus nach einer unglaublich schweren Operation. Danach war fast nichts mehr in ihrem Bauch.
    Das tut mir leid, sagte Alice. Nein, eigentlich nicht, jedenfalls nicht für deinen Vater. Ein schnelles Ende ist soviel leichter. Ich las meiner Mutter gerade aus Emma vor, einem ihrer Lieblingsromane, da klingelte das Telefon. Es war drei Uhr früh: Tim. Er sagte: Ich bin im Ferienlager, Sophie ist krank, sie hat hohes Fieber und Krampfanfälle. Ich bringe sie nach Portland in die Klinik. Du solltest kommen, denke ich. Das Au-pair war ein liebes Mädchen, aber ich konnte sie und Tommy nicht bei

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