Schmidts Einsicht
ist. Ich habe eben gar keinen Kontakt mehr zur Kanzlei. Aber mir ist aufgefallen, daß sie in deinem Briefnicht vorkam, und ich habe mich gefragt, warum. Sie war so liebenswürdig. Von allen Partnerfrauen war sie am freundlichsten zu mir, und sie war die lustigste. Ich weiß noch, wie sie große Kulleraugen machte, als wir einander gegenübersaßen und Mrs. Wood zuhörten, die auf einem dieser Feste für Ehefrauen eine kleine Rede hielt. Ich konnte nur mit Mühe ernst bleiben.
Schmidt nickte. Kulleraugen machen war eine von Marys besonderen Fähigkeiten. Dafür war sie am Radcliffe College und im Verlag berühmt.
Ungefähr eine Minute lang herrschte Schweigen; dann sagte er, Alice, bitte erzähl deine Geschichte weiter. Ich möchte sie unbedingt hören, auch wenn sie sehr quälend ist.
Also gut, sagte sie, aber quälend ist sie. Noch schlimmer, sie ist katastrophal. Es war so: Am Morgen nach Sophies Tod kümmerte sich Tim um die Beerdigung in Verplanck Point. Sie konnte ohne Schwierigkeiten schon am nächsten Tag stattfinden, also fuhren wir alle hinter dem Leichenwagen her an den Ort. Zu fünft in einer Limousine, Tim, Bruno, das Au-pair-Mädchen, Tommy und ich. Die Fahrt war ein Alptraum, und als wir ankamen, wurde es noch schlimmer. Wir mußten im großen Haus bei Tims Eltern, seiner Schwester und ihrem Mann wohnen, sonst hätte es einen Aufstand gegeben, also mußten wir zusätzlich zu unserem ganzen Kummer und Leid auch noch die steinerne Bösartigkeit und den Haß und die entsetzlichen Unterstellungen der Verplancks aushalten. Mrs. Verplanck sagte tatsächlich, Tim und ich seien schuld. Wir hätten daran denken müssen, daß die Ansteckungsgefahr im Ferienlager hoch sei, und sie nicht nach Horned Owl schicken dürfen. Ich sagte nichts, aber Tim war wütend und brüllte. Hast du ihn je brüllen hören? Angenehm klang das nicht. Nach der Beerdigung bliebenwir nicht zum Mittagessen – das brachte keiner von uns über sich –, aßen eine Kleinigkeit an einer Ladenstraße und stiegen wieder in die Limousine. Wir übernachteten in irgendeinem Motel und fuhren am Morgen ohne Pause nach Bar Harbor zurück, hielten nur an, damit Tommy und Bruno, ja, Bruno auch, am Straßenrand pinkeln konnten. Wir waren kaputt, als wir ankamen, und am nächsten Tag erlaubte ich mir, lange zu schlafen und mich nach dem Mittagessen wieder ins Schlazimmer zurückzuziehen. Tommy und das Au-pair-Mädchen hielten Mittagsschlaf. Ich versuchte einzuschlafen, vielleicht eine halbe Stunde lang, schaffte es aber nicht, und schließlich stand ich auf und ging ans Fenster. Es war ein wunderschöner, grausam schöner Nachmittag. Das Meer war so gleißend, daß ich die Augen nach einem Moment abwenden mußte, ich schaute statt dessen in den Garten hinab, und da, gleich neben der Laube, direkt in meinem Blickfeld, standen Tim und Bruno, ins Gespräch vertieft; was sie sagten, wurde vom Wellenrauschen verschluckt. Ich wollte ihnen schon etwas zurufen, aber plötzlich wurde mir klar, was ich da sah. Sie standen Hand in Hand, schon das überraschte mich, denn es war nicht Tims Stil. Ich hatte ihn noch nie so mit einem anderen Mann gesehen. Aber dann schlang Tim die Arme um Bruno und küßte ihn auf den Mund. Küßte ihn wirklich, will ich damit sagen. Tims Zunge war tief in Brunos Mund, unübersehbar, da sie so dicht unter meinem Fenster standen. Einen Moment danach kam eine Geste: Bruno schob seine Hand vorn in Tims Hose und streichelte ihn, bis Tim sich ihm entzog und sie, immer noch Hand in Hand, ins Haus liefen. Ich dachte, ich würde aufheulen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Ich habe mich gefragt, ob ich die Sprache jemals wiederfinden würde. Die Luft wurde mir knapp, ich lief immer im Kreis herum und kämpfte gegen den Drang, mich im Zimmerauf dem Boden zu wälzen. Plötzlich begriff ich, was ich tun mußte. Ich ging auf den Flur hinaus. Dort liegt ein dicker dunkelroter Teppich, der das Geräusch von Schritten schluckt. Aber ich wollte sichergehen und schlich auf Zehenspitzen zu dem großen Gästezimmer, in dem wir Bruno untergebracht hatten. Die Tür war zu. Ich werde immer noch rot vor Scham, wenn ich daran denke, was ich dann tat: Ich habe das Ohr ans Schlüsselloch gehalten und die beiden gehört. Wie sie fickten und stöhnten, Schmidtie, ich wußte, daß der eine den anderen bumste. Was hätte es denn sonst sein sollen? Ich wollte unbedingt wissen, wer gebumst wurde – als ob es darauf ankäme –, aber ich habe nicht durchs
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