Schmidts Einsicht
Schlüsselloch geschaut. Das habe ich nicht gewagt, ich konnte einfach nicht.
Sie fing an zu weinen, leise und traurig. Ihre Handtasche stand auf einem Schemel neben ihrem Stuhl. Sie fand ein Taschentuch und tupfte sich die Augen ab. Ich benehme mich unmöglich, flüsterte sie, es tut mir so leid.
Ihre andere Hand lag flach auf dem Tisch. Schmidt streichelte sie. Was sollte er sagen? Ihm fiel nur ein: Das tut mir schrecklich leid. Dann sagte er: Komm, wir trinken einen Kaffee und vielleicht einen Brandy. Der wird dir guttun.
Keinen Brandy für mich, erwiderte sie. Wenn du einen trinkst, nehme ich einen Schluck aus deinem Glas.
Während sie Kaffee tranken, leerte sich das Speisezimmer, bis sie die letzten Gäste waren.
Es ist ein wunderschöner, warmer Nachmittag. Wenn mein Knöchel mir nicht so zu schaffen machte, würde ich vorschlagen, daß wir zu den Tuilerien hinübergehen und uns zwei Stühle in der Sonne suchen. Aber ich fürchte, das kann ich nicht, mein Knöchel tut mehr weh als gestern. Ich habe zwei Ideen. Die eine: Wir könnten in die Lobby oder die hintere Bar gehen. Die andere – eher revolutionär: Wir gehen in meine Suite hinauf. Mike Mansour hat sie das ganze Jahr über gemietet. Sie hat eine Terrasse – die Aussicht von dort kannst du dir vorstellen – und ein großes Wohnzimmer, falls du die Luft auf der Terrasse zu kühl findest. Aber das wirst du bestimmt nicht. Die Nachmittagssonne ist so angenehm.
Sie mußte lachen. In deine Suite zu gehen wird mich nicht kompromittieren. Versuchen wir’s mit der Terrasse.
Er hatte den Zimmerservice angerufen und Kaffee bestellt, außerdem diesmal auch einen Brandy. Während der Kellner auf der Terrasse mit dem Tablett beschäftigt war, kam ihm der Gedanke, daß sie auch eine Alternative hätte vorschlagen können, die weniger gewagt war als seine Suite, nämlich ihre Wohnung. Die möglichen Folgerungen schob er beiseite. Sie war verstört, er war kein Mike Tyson, und um seinen Knöchel zu schonen, hätten sie ein Taxi nehmen müssen, und später wäre es kompliziert geworden, ihn ins Hotel zurückzutransportieren. Nein, sie hatte die richtige Entscheidung getroffen: Es wäre zu dumm gewesen, auf das Sonnenbad mit dem grandiosen Blick über den Platz, den Fluß und das linke Seineufer zu verzichten. Er hob den Schwenker und probierte. Der ist gut, sagte er, und hielt ihr das Glas hin, einen besseren habe ich vielleicht nie getrunken.
Sie nahm einen großen Schluck und dann noch einen. Ich sage mir immer, was geschehen ist, läßt sich nicht wiedergutmachen, also kann ich ruhig gut zu mir sein. Du hattest recht mit dem Kognak, und du hattest recht, mich hierher einzuladen. Fragst du dich, warum ich dir soviel erzählt habe und warum ich dir sogar noch mehr erzählen will?
Er sagte die Wahrheit: Nein, er habe angenommen, jemand, der Tim gekannt und sehr geschätzt habe, würdesolche Fragen ganz selbstverständlich stellen. Und er hoffe, sie werde noch mehr erzählen. Was er bis jetzt erfahren habe, sei schrecklich, erkläre aber nicht, warum Tim in so jungen Jahren in den Ruhestand gegangen und so kurz danach gestorben war.
O Schmidtie, du bist so herrlich altmodisch und bieder. Gib mir noch einen Schluck aus deinem Glas, dann erzähle ich alles. Auch, warum ich dir schon soviel erzählt habe, obwohl du darauf nicht neugierig bist. Ich glaube, du bist nett und freundlich. In Harvard mußt du einer von den netten, sehr biederen Jungen gewesen sein, die ich mochte, als ich auf dem Radcliffe College war.
Wenn ich fünfzehn Jahre jünger wäre, könnte ich zu deiner Zeit dort gewesen sein, sagte Schmidt. Bieder war ich bestimmt und womöglich sogar nett. Da er sah, daß sie keine Anstalten machte, den Schwenker aus der Hand zu geben, rief er wieder den Zimmerservice an und bestellte noch zwei Gläser. Nur für alle Fälle, erklärte er Alice.
Gute Planung, erwiderte sie. Mir schwirrt der Kopf, aber ich will versuchen, zusammenhängend zu erzählen. Wie du dir vorstellen kannst – nein, das kannst du nicht, ich konnte es ja auch nicht –, widerstand ich dem Impuls, in dieses Zimmer hineinzuplatzen, die beiden zu verfluchen und dann Tommy aus seinem Mittagsschlaf zu wecken, mit ihm und dem Au-pair-Mädchen ins Auto zu steigen und zu fliehen. Irgendwohin, wo wir sicher wären. Zu meinem Vater, um bei ihm und meiner sterbenden Mutter zu sein. Statt dessen duschte ich lange, zog mich normal an und legte einen Zettel vor diese Schlafzimmertür, auf dem
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