Schmidts Einsicht
meinem Vater lassen. Wir flogen alle drei am nächsten Morgen von Nizza ab, und spät am Abend war ich in der Klinik. Sophie hat mich nicht mehr erkannt. Sie starb nach zwei furchtbaren Tagen. An einer Meningitis nach einer Staphylokokkeninfektion. Noch drei andere Mädchen waren krank geworden, und eines davon schaffte es auch nicht. Die Leiterin des Ferienlagers hatte zu langsam reagiert, sie rief die Eltern an, statt den Rettungswagen und den Notarzt zu alarmieren. Den Zorn und die Anschuldigungen kannst du dir vorstellen, aber wahrscheinlich nicht, wie entsetzlich es ist, das kleine Gesicht eines zwölfjährigen Kindesschmerzverzerrt und leer zu sehen. Ganz leer, irgendwie nach innen gerichtet.
Sie brach ab und sagte: Jetzt kann ich nicht mehr. Hättest du Zeit, wiederzukommen?
Der nächste Tag war ein Sonntag. Wohin konnte er sie einladen? In den Brasserien würde es voll und laut sein. Alle guten und halbwegs ordentlichen Restaurants, die er kannte, waren sonntags geschlossen; blieben nur die Hotelrestaurants. Das in seinem Hotel war bekannt für seine gute Küche. Sie war einverstanden, ihn dort um ein Uhr zu treffen, und als er sich verabschiedete, bot sie ihm die Wange zum Kuß.
IV
Du bist schockiert, sagte sie, ich sehe es dir an. Ich komme in langen Hosen und ohne Make-up hierher.
Sie sah wirklich furchtbar aus, blaß und abgehärmt, und der dunkle Lippenstift machte ihr Gesicht noch bleicher.
Du bist wunderschön, erwiderte er, und was spricht gegen lange Hosen zum Lunch an einem Sonntag, es sei denn, du warst vorher in der Kirche?
Sie lächelte. In Frankreich gehen wir nicht oft in die Kirche, allenfalls zu Taufen, Hochzeiten und Trauerfeiern. Sie biß sich auf die Lippe und sagte dann: Es gab in einer Episkopalkirche einen Gottesdienst für Sophie, bevor sie im Familiengrab in Verplanck Point beigesetzt wurde. Tim ist auch dort begraben. Die Messe las derselbe Priester. Ich will mich einäschern lassen. Meine Mutter hat das nicht gewollt, wegen Auschwitz, aber das ist kein guter Grund, finde ich. Daß die Deutschen die Juden einäscherten, die sie umgebracht hatten, war das geringste Übel, das sie ihnen angetan haben.
Schmidt suchte nach einem zustimmenden Wort, aber sie bemerkte sein Zögern und kam ihm zuvor. Verzeih, sagte sie, nicht darüber wollte ich mit dir reden. Das Gespräch von gestern geht mir nicht aus dem Kopf, aber ich will nicht mehr daran denken. Und ich weiß nicht, ob ich mehr von meiner Geschichte erzählen kann oder soll. Dann blickte sie um sich und sagte ganz ohne Zusammenhang zum Vorangegangenen: Was für ein herrlicher Raum.
Zuviel Marmor für meinen Geschmack, aber die Küche ist gut, sagte Schmidt. Komm, wir bestellen unser Essen.Ich muß aber zugeben, daß ich enttäuscht wäre, wenn du nicht zu Ende erzählst, was du angefangen hast. Sie nickte und sagte: Ich versuche es. Ich werde ja sehen.
Sie aß und trank mit unverhohlenem Genuß, und Schmidt, der sie nicht drängen wollte, merkte, daß er die Unterhaltung weitgehend allein bestritt. Er erklärte, daß der Gründer der Stiftung, für die er arbeitete, sein Landhausnachbar und inzwischen auch Freund Mike Mansour war, ein milliardenschwerer ägyptischer Jude, der als kleiner Junge mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten gekommen war. Die Eltern produzierten und verkauften mit Erfolg Vorhänge. Mike vermehrte den bescheidenen Wohlstand zu einem Riesenvermögen und stieg mühelos in die höchsten Ränge der Forbesliste der Milliardäre auf, Ronald Perelman hatte er schon überholt. Seine Stiftung gründete er, um in Mittel- und Osteuropa und den ehemaligen Mitgliedsstaaten der Sowjetunion Demokratie, Humanwissenschaften und Kapitalismus zu fördern.
Bis jetzt predige ich das Evangelium der Demokratie und der Humanwissenschaften ganz gern, fuhr Schmidt fort. Ayn Rand und ihr fröhlicher Marktkapitalismus stehen auf einem anderen Blatt. Alles in allem bin ich Mike aber wirklich dankbar. Er hat mich aus meinem Schneckenhaus geholt, ich arbeite wieder, und ich reise geschäftlich an Orte, die ich von selbst nie aufsuchen würde. Du weißt wahrscheinlich, daß ich früh in den Ruhestand gegangen bin, als Mary an einem Krebs erkrankt war, der beinahe überall Metastasen bildete. Ich wollte bei ihr sein, und es war die richtige Entscheidung. Trotzdem, als ich sie und die Arbeit meines ganzen Lebens verlor, war ich in einer Ödnis – richtungslos.
Das tut mir so leid, sagte Alice, ich wußte nicht, daß Mary tot
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