Schmidts Einsicht
trotzdem, er konnte sich nicht beherrschen. Die Wirkung trat prompt ein. Renata fing an zu weinen. Im ersten Moment glaubte er, es sei ein Trick, aber nein, dieses Schluchzen war echt und klang gequält. Er war schuld und mußte sie beruhigen. Aber auf ein Mittagessen in seinem Club oder einem Restaurant würde er sich nicht einlassen. Das hatten sie schon einmal versucht.
Ich muß um sieben gehen. Wenn du möchtest, komm um sechs auf einen Drink. Bring bitte Myron mit, wenn er Zeit hat.
Ich komme um sechs, erwiderte Renata. Die Adresse hat Charlotte mir gegeben.
Es war der Abend eines strahlenden Maitages, und Schmidt stellte amüsiert fest, daß Renatas Kollektion von Chanelkostümen oder Chanel-Imitaten das zum Anlaß Passende hergab. Diesmal war es weiß. Selbst wenn es stimmte, daß sie und Myron in Geldnot waren, hatte sie die Standards ihrer Garderobe nicht gesenkt. Sie trug Chanel-Pumps, beige mit schwarzen Lacklederspitzen, und ihre Strümpfe waren ebenfalls beige. Ihre Handtasche paßte zur Kleidung. Weil nichts davon neu war, konnte Schmidt die Kosten des ganzen Outfits ungefähr einschätzen: Er hatte Mary in den Jahren vor ihrer tödlichen Krankheit ab und an ein Chanelkostüm oder Accessoires gekauft und erinnerte sich noch an die Preise. Nach einer Weile gingen solche fortgesetzten Anschaffungen richtig ins Geld. Andere Extravaganzen waren wahrscheinlich noch dazugekommen. Kein Wunder, daß die Ersparnisse der Rikers aufgezehrt waren. In anderer Hinsicht hatte Renata sich verändert. Als er sie zuletzt gesehen hatte, im vergangenen Herbst bei jenem Mittagessen in seinem norditalienischen Lieblingsrestaurant, zu dem sie sich selbst eingeladen hatte, war ihm aufgefallen, daß sie schneller gealtert war, als man gedacht hätte, ihr früher tiefschwarzes, am Hinterkopf zu einem festen Knoten geschlungenes Haar war vollkommen grau geworden. Inzwischen hatte sie sich einen Pagenschnitt zugelegt und nichts unternommen, um das Grau zu übertönen. Ihre Augen sahen noch müder aus; die gelben Augenringe waren dunkler und vielleicht größer geworden. Es fiel ihm schwer zu glauben, daß er sie bei ihrer ersten Begegnung attraktiv genug gefunden hatte für einen Annäherungsversuch und daß sie sich, als er mit einer üblen Grippe darniederlag, mit einem unerwartet leidenschaftlichen Kuß revanchierte. Seitdem waren kaum drei Jahre vergangen, aber jetzt erschienen ihm seine wie ihre damaligen Gesten lächerlich, sogar grotesk.
Sie sah sich um, schaute kurz in das Schlafzimmer und die Küche und nickte, als sie von ihrer Besichtigungstour zurückkam. Eindrucksvoll, diese kleine Wohnung, sagte sie, und in einem der schönsten Gebäude der Park Avenue. Du wirst vom Glück verwöhnt, Schmidtie!
Die Wohnung gehört dem Unternehmen und wurde vom Unternehmen ausgesucht und ausgestattet. Ich benutze sie fast nur, wenn ich geschäftlich in New York bin.
Das Unternehmen ist die Stiftung deines milliardenschweren Freundes, wenn ich mich nicht irre. Das hat mir Jon jedenfalls erklärt.
Schmidt erwiderte, daß ihr Sohn gut informiert sei, und bot ihr ein Getränk an.
Nichts Alkoholisches, sagte sie. Irgendein Saft oder Wasser wäre gut.
Er gab ihr einen Gemüsesaft aus dem Kühlschrank und schwankte, ob er einen Bourbon oder einen Martini trinken sollte, entschied sich dann für einen Martini, weil die Zeit weiterlaufen würde, während er ihn zusammenrührte. So konnte er das Interview um drei bis vier Minuten verkürzen.
Sie durchschaute sein Spiel und folgte ihm in die Küche. Ich bin hierhergekommen, um mit dir zu reden, Schmidtie. Als du Jon angerufen hast, warum hast du ihm zuerst den Kopf abgerissen und dann den Hörer aufgelegt? Welches Kapitalverbrechen wirfst du ihm vor? Daß er seinen schwerreichen Schwiegervater gebeten hat, Vorkehrungen für die finanzielle Sicherheit seines ersten Enkels zu treffen?
Schmidt hatte den Gin abgemessen, gab einen Tropfen Wermut und mehrere Eiswürfel dazu und schüttelte kräftig. Er nahm eine Olive, wusch sie sorgfältig unter fließendem Wasser, trocknete sie mit einem Papiertuch ab, legte sie in das Glas und goß den Inhalt des Shakers darüber. Er trank einen Schluck und drehte sich dann zu Renata um.
Weißt du was, sagte er, wenn ich dich so reden höre, wünsche ich mir allmählich, ich wäre Jude. Es muß angenehm sein, eine jüdische Mutter zu haben, die dir die Nase und den Hintern auch dann noch abwischt, wenn duein erwachsener Mann geworden bist, und die sich
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