Schmidts Einsicht
am nächsten Tag, einem Dienstag. Sie sei gerade aus dem Büro gekommen, erzählte sie ihm, und sie wolle nicht mehr ausgehen. Madame Laure habe ihr ein einfaches Abendessenzubereitet und danach werde sie schlafen gehen. Antibes sei sehr anstrengend gewesen, ihr Vater ängstlich und ratlos und Janine wirklich in schlechter Verfassung. Irgendeine Atemwegs- saleté – Infektion –, noch keine Lungenentzündung, eher eine schwere Bronchitis. Der Husten ermüde sie schrecklich und halte natürlich ihren Vater wach.
Haben sie eine Pflegerin eingestellt?
Nicht, bevor ich kam. Ich habe zwei gefunden, eine für den Tag und eine für die Nacht. Es bleiben immer noch ein paar Stunden ohne Betreuung, aber mein Vater hat sich geweigert, mehr zu tun. Er macht sich Sorgen um das Geld – so ist er eben –, obwohl die Kosten zum größten Teil von der Versicherung übernommen werden und obwohl weder sie noch er sparen müssen. Schmidtie, es war so traurig. Man wird so müde und deprimiert, wenn man an einem Krankenbett sitzt.
Er erzählte ihr, daß er am Freitag nachmittag, als sie unterwegs nach Antibes gewesen sei und er auf seinen Flug nach New York wartete, vom Flughafen aus angerufen hatte, nur um lauter Küsse auf ihrem Anrufbeantworter zu hinterlassen, aber dann sei sie ans Telefon gegangen, und in seiner Verblüffung habe er einfach aufgelegt. Er habe ihre Nummer gleich danach wieder und wieder gewählt, um sich zu entschuldigen, aber der Anschluß sei immer besetzt gewesen, fast eine Stunde lang. O ja, erklärte sie ihm, ich habe mit Air France telefoniert, mehr als eine Stunde, fast eine Ewigkeit, weil ich versuchen mußte, einen Platz in einem Flugzeug am Samstag morgen zu bekommen. Dasselbe haben wahrscheinlich alle anderen auch gemacht, die den von Air France gestrichenen Flug gebucht hatten. Dann bin ich mit Serge und einem seiner britischen Autoren zum Dinner gegangen. Er hatte den ganzen Nachmittag versucht, mich dazu zu überreden. In gewisser Weise war ich froh, daß mein Flug ausfiel. DerAbend war wirklich amüsant, und ich war eine Nacht weniger als Oberschwester im Dienst.
Blöder Popov, dachte Schmidt.
Ich habe einen Vorschlag für unser Rendezvous im Juni, mein Schatz, erklärte er Alice. Was würdest du sagen, wenn ich am Donnerstag, den 8. Juni, käme und bis Dienstag, den 13., bleiben würde?
Ich warte auf dich, flüsterte sie. Vielleicht kaufe ich mir sogar ein neues Kleid.
Nach dem Gespräch mit Alice hatte er kaum den Hörer aufgelegt, als sein Telefon klingelte: ein ungewöhnliches Vorkommnis in seinem pied-à-terre . Ohnehin riefen ihn nur wenige Leute an, und seine New Yorker Nummer kannte praktisch niemand. Er nahm den Hörer ab und lauschte mißtrauisch. Es war eine Stimme, die er kannte, und – gleich nach Popov – die letzte, die er hören wollte. Renata Riker, Charlottes habgierige böse Schwiegermutter, die sich immer einmischte. Er fand den Gedanken unerträglich, daß seine arme, verblendete Tochter glaubte, in Renata die Mutter gefunden zu haben, die sie verloren hatte, als Mary gestorben war.
Schmidtie, sprach die Stimme, hier ist Renata. Ich hoffe, es geht dir gut. Du und ich, wir müssen über unsere Kinder und unseren Enkel reden.
Schmidt sagte nichts.
Schmidtie, bist du noch da, oder sind wir unterbrochen worden? Würdest du bitte etwas sagen.
Die ehrenrührige Hypothese, er habe einfach aufgelegt, wollte sie offenkundig nicht in Erwägung ziehen.
Ich bin hier, erwiderte er.
Schmidtie, du handelst aus Abneigung gegen Jon. Wie du dich über ihn geärgert hast, als du merktest, daß er mit Charlotte lebt, und als sie heirateten, das wissen wir beide sehr gut. Jetzt hat er das denkbar schlimmste Verbrechen begangen. Er hat sie geschwängert, sie wird sein Kind gebären. Nicht deins. Seins! Er hat die Rolle an sich gerissen, die du und so viele andere Väter unbewußt sich selbst vorbehalten. Das sind Gefühle, die analysiert und abgearbeitet werden müssen, bevor sie noch mehr Schaden anrichten.
Was für ein Geschwafel, sagte Schmidt. Bezahlen dich Leute, um das zu hören? Kein Wunder, daß sie immer weniger werden, wie du sagst.
Mit Beleidigungen wirst du mich nicht los, antwortete Renata. Ich möchte mich mit dir treffen, in New York, heute nachmittag oder am Abend oder irgendwann morgen. Charlotte hat mir gesagt, daß du jetzt hier bist und bis morgen bleibst.
Du hast ja eine Menge freie Zeit!
Darüber zu lachen war grausam, das wußte er, aber er lachte
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