Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall
miteinander gearbeitet, bis …«
»Ja?«, fragte Lenz interessiert.
»Reibungsverluste, wie gesagt. Abnutzung. Nennen Sie es, wie
Sie wollen, am Ende haben wir einfach nicht mehr gut und gern
zusammengearbeitet.«
»Das Ende, wie Sie es nennen, war seine
Pensionierung?«
»Nein. Das Ende war, als ich die Gruppe verlassen habe, um
mich mehr den administrativen Dingen zuzuwenden. Ich wollte einfach nichts mehr
mit dem operativen Geschäft, also mit den Zöglingen direkt, zu tun haben. Und
wie Sie sehen, mache ich diesen Job noch immer.«
Der Hauptkommissar deutete auf den Pavillon. »Aber dort
drüben ging alles so weiter wie gewohnt?«
»Nein, wo denken Sie hin. Dieter hat auch deshalb
ein paar Jahre früher als nötig aufgehört, weil es hier am Standort massive
Umstrukturierungen gegeben hatte in den Jahren zuvor. Die Organisation, wie wir
sie kannten, wurde komplett umgekrempelt; kein Stein blieb mehr auf dem
anderen.«
»Mit welchen Folgen?«
»Es wurden neue, für damalige Verhältnisse richtungweisende
Betreuungskonzepte eingeführt. Wir von der alten Garde waren dabei eher im Weg.
Wir stammten aus einer anderen Zeit, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Nein, tut mir leid, ich verstehe es nicht«, erklärte Lenz
der Frau.
Sie trat zurück an den
Schreibtisch und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. »In den 60er-Jahren, als
Dieter Bauer und ein paar andere, die mittlerweile tot oder lange im Ruhestand
sind, hier anfingen, galt die Maxime, dass die Jugendlichen, die hierher
eingewiesen wurden, das Heim als anständige Menschen zu verlassen hatten. Und
das war nun einmal nicht damit zu erreichen, dass man sie mit Glacéhandschuhen
angefasst hat.«
»Sie meinen«, fragte Hain dazwischen, »dass es nach der
Umstrukturierung weniger autoritär zugehen sollte?«
»Wenn Sie so wollen, ja. Wobei diese Tendenzen schon in den
gesamten 90er-Jahren zu beobachten waren. Wir mussten uns dem beugen.«
»Das heißt, dass es hier schon Menschen gab, die auf Herrn
Bauer nicht gut zu sprechen waren?«, hakte der junge Oberkommissar nach.
»Was soll denn
das heißen?«, bellte sie ihn an. »Natürlich gab es ›Menschen‹, die nicht gut
auf ihn zu sprechen waren. Der Job, den wir gemacht haben, hat es nun einmal
mit sich gebracht, dass man nicht von jedem und allen geliebt wurde.«
»Gab es damals Drohungen?«
»Drohungen«, paraphrasierte sie, »waren damals an der
Tagesordnung, mit denen ist man morgens aufgestanden und abends ins Bett
gegangen.«
Lenz hob beschwichtigend die Hände. »Ich persönlich kann mir
ganz schlecht vorstellen, dass ein ehemaliger Zögling dieses Heimes zehn Jahre
oder noch länger wartet, bis er sich, warum auch immer, an einem seiner
damaligen Erzieher rächt. Das ist nicht logisch.«
»Wegen der langen Zeit, die dazwischenliegt?«, fragte sie
zurück.
Lenz nickte.
»Ich würde Ihnen gern recht geben, Herr Kommissar,
aber ich weiß es leider besser. Wir hatten es hier nicht mit Jugendlichen zu
tun, die dem Bild entsprechen, das man von einem anständigen und aufrechten
Heranwachsenden hat. Die Jungen, aber auch die Mädchen, die wir hier zu
betreuen hatten, waren zum Teil brutale Straftäter, die sich das
Jugendgefängnis dadurch erspart haben, dass sie einer Heimeinweisung zugestimmt
haben. Knast oder Heim, das war damals die Frage. Dass sich die wenigsten
freiwillig für den Gefängnisaufenthalt entschieden haben, muss nicht
verwundern.«
»Das erklärt aber nicht
die unglaublich lange Zeitspanne, die zwischen dem Heimaufenthalt und der
möglichen Tat liegt.«
»Doch, glauben Sie mir. Viele der Jugendlichen
von damals sind heute verurteilte Straftäter, die zum Teil langjährige
Haftstrafen absitzen oder abzusitzen hatten. Und, was viel wichtiger ist, diese
jetzt Erwachsenen sind oftmals noch brutaler und unberechenbarer geworden in
ihrem Handeln. Vielleicht hat der eine oder andere mittlerweile sein Leben im
Griff, aber der Großteil dieser Leute gehört zum Bodensatz unserer
Gesellschaft.«
Erika Schäfer war dabei, sich in Rage zu reden. »Ich bin
sicher, dass viele der ehemaligen Zöglinge noch immer den unbändigen Hass und
die blinde Wut auf alles mit sich herumtragen, was sie mit diesem Heim hier verbinden.
Und dass wir Erzieher dabei an vorderster Stelle stehen, sollte jedem klar
sein. Vielleicht wurde der Täter gerade aus dem Gefängnis entlassen, wo er
viele Jahre Zeit hatte, in seinem Kopf ein Szenario
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