Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall
Farbe aus dem Gesicht. »Sie wollen damit
sagen, dass er umgebracht wurde? Verstehe ich Sie richtig?«
»Leider, ja.«
Sie sah die beiden Kommissare mit einer Mischung aus
Unverständnis und Missbilligung an. »Von einem ehemaligen Zögling?«
»Wie gesagt«, erklärte Hain, »wir stehen erst am Anfang
unserer Ermittlungen. Anhaltspunkte, dass Herr Bauer von einem ehemaligen, wie
Sie es nennen, ›Zögling‹, getötet wurde, gibt es bisher nicht.«
»Wurde er ausgeraubt?«
»Allem Anschein nach können wir das ausschließen.«
»Wo ist es passiert?«, fragte sie völlig sachlich. Sie schien
sich wieder vollkommen gefangen zu haben.
»Es ist in seinem Haus geschehen, gestern Abend.«
Frau Schäfer drehte sich mit ihrem Stuhl zum Fenster und sah
auf die Rasenfläche und die alten, großen Bäume vor dem Jagdschloss. »Wer,
frage ich Sie«, formulierte sie, ohne die Beamten anzuschauen, »tötet einen
alten Mann in seinem eigenen Haus? Einen Mann, der weit über 70 Jahre alt ist?«
Der Stuhl drehte sich erneut, und Erika Schäfers Blick war
nun wieder auf die Polizisten gerichtet. »Ich war mir immer sicher, dass sich
so etwas irgendwo in Deutschland irgendwann zutragen würde. Aber dass es nun
Dieter getroffen hat, tut mir wirklich leid.«
»Sie scheinen sicher zu sein, dass er von einem ehemaligen
Heimbewohner getötet wurde. Was bringt Sie zu dieser doch etwas gewagten
Annahme?«
Sie ging nicht auf die Frage des Oberkommissars ein. »Was ist
mit seiner Frau? Wurde sie auch ›das Opfer eines Tötungsdeliktes‹, wie Sie es
nennen?«
Hain schüttelte den Kopf. »Seine Frau wurde gestern beerdigt.
Sie ist ein paar Tage zuvor gestorben. Eines natürlichen Todes.«
Wenn es eine Reaktion von Erika Schäfer auf diese Information
gab, so war sie für Lenz nicht zu erkennen. Sie blickte dem Beamten ungerührt
ins Gesicht. Dann ein Nicken. »Sie war krank, schon sehr lange.«
»Sie kannten Frau Bauer?«
Wieder ein Nicken. »Wir waren einmal Freundinnen, ja, aber
das ist lange her.«
Lenz und Hain sahen sich irritiert an. »Was ist
passiert?«
Die Gesichtszüge der grauhaarigen Frau hinter dem
Schreibtisch wurden eine weitere Nuance strenger. »Das gehört nicht hierher. Im
Leben von Menschen passieren Dinge, die einer Freundschaft nicht guttun. Lassen
wir es dabei bewenden.«
Lenz hatte nicht die Absicht, es dabei bewenden zu lassen,
wollte jedoch die Frau nicht in die Enge treiben, deshalb wechselte er zunächst
das Thema.
»Wann haben Sie Herrn Bauer zuletzt gesehen, Frau Schäfer?«
Sie legte den Kopf zurück und dachte nach. »Kurz vor Weihnachten
letztes Jahr sind wir uns zufällig über den Weg gelaufen, in Kassel.«
Lenz und sein Kollege warteten auf eine weiterführende
Erklärung, doch die Frau schwieg sie an.
»Und?«, fragte der Oberkommissar.
»Was und? Was wollen Sie wissen, junger Mann?«
»Wie ist die Begegnung verlaufen«, konkretisierte Hain seine
Frage. »Immerhin haben Sie nach Ihrer eigenen Angabe mehr als 20 Jahre
zusammengearbeitet.«
»Unser Verhältnis war, wenn ich das so sagen kann, über die
Zeit ein wenig abgekühlt. Wir hatten uns, schon lange, bevor Dieter in Rente
ging, nicht mehr viel zu sagen.«
»Aber das Verhältnis war vorher besser, wenn ich Sie richtig
verstehe?«
»Durchaus, ja.«
»Was hat dazu geführt, dass es sich verschlechtert hat?«,
hakte Lenz nach.
Wieder schoss sie einen Blick ab, der mit vernichtend
schmeichelnd umschrieben wäre. »Auch das ist privat. Aber ich muss Sie doch
sicher nicht darüber aufklären, meine Herren, dass es im Verlauf einer solch
langen gemeinsamen Tätigkeit zu Reibungsverlusten kommt. Das sehe ich als völlig
normal an.«
»Stimmt«, knurrte Lenz. »Wie eng war denn Ihre
Zusammenarbeit? Haben Sie sich jeden Tag gesehen?«
»Nahezu jeden Tag, ja. Wir waren gemeinsam auf einer Gruppe
tätig.«
»Auf einer Gruppe?«
»Ja, auf einer Gruppe.« Sie erhob sich und ging zu dem Fenster,
aus dem sie kurz nach dem Eintreffen der beiden Beamten ins Freie geblickt
hatte. Sie deutete auf das mittlere Gebäude des Ensembles quer gegenüber. »Das
dort drüben sind die sogenannten Pavillons. Der mittlere davon ist Pavillon
zwei, wo ich mit Dieter Bauer gearbeitet habe. Im Obergeschoss ist die
Schülergruppe untergebracht gewesen, die wir gemeinsam betreut haben.«
»Er war der Gruppenleiter?«
»Ja, er war der Gruppenleiter. Aber das war nicht wichtig,
wir haben immer gut und kollegial
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