Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall
ganze Zeit mit einem dicken Bauch durch die
Gegend.«
Lenz dachte an das, was
Martin Melchers den Polizisten ein paar Stunden zuvor erzählt hatte. Dass er
sie bis zu ihrem Tod gepflegt habe, weil sie sonst niemanden gehabt hatte.
Keine Kinder.
»Sind Sie ganz sicher,
dass wir von der gleichen Frau sprechen, Herr Schlieper? Nach unseren
Informationen war Frau Soffron, die übrigens vor ein paar Monaten verstorben
ist, kinderlos.«
Der Mann in der grünen
Uniform legte den Kopf zurück und dachte ein wenig nach. »Petra Soffron. Nein,
da bin ich ganz sicher, dass ich mich an sie erinnere. Sie war so eine
Mittelgroße, hatte ein bisschen Akne, ging auf die Hauptschule und trug eine
markante Tätowierung auf einem Arm. Fragen Sie mich aber bitte nicht, auf
welchem.«
Wieder hatte es den
Anschein, als durchlebe er ein wenig die lange zurückliegende Zeit. »Obwohl,
das mit der Tätowierung, das würde ich jetzt nicht unbedingt als Erkennungszeichen
gelten lassen.«
»Warum?«, wollte Lenz
wissen.
»Weil die allermeisten
der Heimbewohner tätowiert waren, obwohl es natürlich strengstens verboten war,
sich zu tätowieren.«
»Trotzdem haben es fast
alle gemacht?«, meinte Hain mit einem Blick auf die freiliegenden Unterarme des
Mannes hinter dem Schreibtisch skeptisch. »Sie auch?«
Schlieper bewegte den
Kopf langsam hin und her. »Nein, ich bin nicht tätowiert, und ich habe auch nie
bereut, es nicht gewollt zu haben oder, besser gesagt, mich immer dagegen gewehrt
zu haben.«
»Wurde man auch
tätowiert, obwohl man es gar nicht wollte?«
»Selbstverständlich, das
kam auch vor. Allerdings war es oftmals gar nicht nötig, denn um dazuzugehören,
taten die meisten der Jungs alles, was ihnen dabei half. Und das schließt eben
auch die Tattoos mit ein, obwohl damals niemand die Dinger so nannte.«
»Das heißt, dass die
meisten der Heimbewohner den Karlshof bunt bemalt verlassen haben?«, fasste
Lenz zusammen.
»Ja. Obwohl einige der
Zöglinge auch schon mit den Dingern im Karlshof ankamen. Meistens waren das
welche, die schon im Jugendknast gesessen hatten.«
»Was wurde denn so
tätowiert?«, zeigte Hain sich neugierig.
»Grundsätzlich alles.
Bilder, Namen, Zahlen, alles.« Schlieper hob die rechte Hand und deutete auf
das Hautstück zwischen der Daumenwurzel und der Handfläche. »Zuerst natürlich
die berühmt-berüchtigten drei Punkte an dieser Stelle hier. Damit wollte man,
so ging zumindest das Gerücht, klarmachen, dass man niemals etwas verraten
würde: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Eine andere Deutung meinte,
das hieße Tod allen Bullen
.«
Er trank sein Wasserglas
in einem großen Schluck leer. »Meistens kamen Unterarmtätowierungen dazu. Der
Name der gerade aktuellen Freundin zum Beispiel. Das gab mit den Jahren eine
ziemliche Liste bei manchen.« Er fing an zu grinsen. »Bei einigen trieb das
schon seltsame Blüten. Mir fällt gerade ein Junge aus Eschwege ein, den Namen
kann ich Ihnen leider nicht mehr sagen, der hatte eine Freundin. Oder nein, er
war verliebt in ein Mädchen, sie war gar nicht seine Freundin. Auf jeden Fall
hieß die Gute Ilona, und das wollte er sich auch auf dem Arm verewigen. Aber
wie es manchmal so kommt, während der Tätowieraktion, die im Übrigen mit drei
zusammengebundenen Nähnadeln bewerkstelligt wurde, haben die Beteiligten ein
bisschen was getrunken, und am nächsten Morgen hatte er tatsächlich statt Ilona
Iloma auf dem Arm stehen. Iloma
!«
Schlieper schüttelte sich. »Und mit dieser Verunstaltung musste er
wahrscheinlich durch sein ganzes Leben gehen.«
»Warum«, wollte Lenz
wissen, »wollten Sie keine Tätowierung?«
Der Soldat legte die
Stirn in Falten. »Sie können davon ausgehen, dass ich mehr als einmal darüber
nachgedacht habe, mir so ein Ding machen zu lassen. Allein, um ruhig schlafen
zu können. Wenn ich mich richtig erinnere, standen mindestens dreimal nachts
irgendwelche Jungs mit den Nadeln und der Tinte in der Hand vor meinem Bett.
Das hat mich immer viel Geld gekostet, es abzuwenden. Aber ich hatte einfach
das Gefühl, dass ich mich nicht an so etwas binden will, und eine Bindung hätte
es ja auf jeden Fall bedeutet. Damals sprach auch noch niemand von weglasern
und diesen Dingen, die es heute gibt.«
»Kennen Sie sonst noch
Ehemalige, die sich im Raum Kassel niedergelassen haben?«
Wieder überlegte der
Soldat. »Nein, tut mir leid. In den Anfangsjahren, nachdem
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