Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall
richtig ist.«
»Das hab ich auch
gedacht, als Schlieper, den ich im Übrigen ziemlich sympathisch finde, davon
gesprochen hat, dass er sich an sie nur schwanger erinnern kann. Aber ob wir
dem so viel Bedeutung beimessen müssen, steht auf einem anderen Blatt.«
»Dann fahren wir jetzt
nach Vellmar und knöpfen uns den Erzieher vor, der übriggeblieben ist.«
*
Die
Adresse in Vellmar lag in einer Einfamilienhaussiedlung. Am Eingang zur Straße
und vor dem Haus stand jeweils ein Streifenwagen. Der gepflegte kleine Garten,
der zum Haus hinführte, hatte etwas Einladendes.
Auf das Klingeln der
Polizisten hin öffnete eine etwa
70-jährige Frau mit schlohweißen Haaren die Tür.
»Ja, bitte?«, fragte sie
höflich, aber sehr reserviert.
»Wir kommen von der
Kriminalpolizei in Kassel«, begann Hain, nachdem er sich und seinen Kollegen
vorgestellt hatte.»Sind Sie Frau
Aurich?«
»Die bin ich. Aber ich
habe Ihren Kollegen, die vorhin hier waren, schon gesagt, dass mein Mann krank
ist. Er ist pflegebedürftig und will bestimmt nicht mit Ihnen sprechen.«
»Das tut uns sehr leid,
Frau Aurich«, reichte Lenz ihr die Hand. »Bitte glauben Sie uns, dass wir Sie
auf keinen Fall stören würden, wenn es nicht wirklich von immenser Wichtigkeit
wäre, mit Ihrem Mann zu sprechen. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass Ihr
Mann in akuter Gefahr schwebt.«
Sie schüttelte unwirsch
den Kopf. »Aber was reden Sie denn da? Mein Mann ist 76 Jahre alt und sehr,
sehr krank. Wer sollte ihm also etwas antun wollen?«
»Es geht um die Zeit, in
der er als Erzieher im Karlshof gearbeitet hat«, versuchte Hain, die Frau neugierig
zu machen.
»Mein Mann hat mehr als
sein halbes Berufsleben im Karlshof gearbeitet, junger Mann. Er ist aber schon
seit mehr als fünf Jahren im Ruhestand.«
»Und Sie meinen, dass er
uns nicht vielleicht doch empfangen könnte? Und wenn es nur für ein paar
Minuten wäre? Wir wären über jede noch so winzige Information dankbar, Frau
Aurich.«
»Um welche Zeit im
Karlshof geht es denn?« Sie schien ein wenig zugänglicher zu werden.
»Hauptsächlich um die
Jahre zwischen 1974 und 1978.«
Sie trat zur Seite. »Na,
dann kommen Sie mal rein. Wenn das so ist, könnten Sie Glück haben.« Sie hob
drohend den rechten Zeigefinger. »Aber wirklich nur kurz. Er sollte sich so
wenig wie möglich aufregen.«
Bertram
Aurich saß in einem hellen Ledersessel und sah sich das Nachmittagsprogramm im
Fernsehen an. Als die Polizisten neben ihn traten, hellte sich sein Gesicht
sofort auf.
»Mensch, Ottmar, schön,
dass du kommen konntest.« Er griff nach der Hand des Hauptkommissars. »Wie geht
es den Eltern?«
Dann wandte er sich zu
Thilo Hain. »Und deinen Filius hast du auch mitgebracht. Schön. Und groß ist er
geworden! Wie war noch dein Name, Junge?«
Die Kripoleute warfen
einen hilfesuchenden Blick zu Frau Aurich.
»Bertram, das sind nicht
der Ottmar und sein Sohn. Die waren doch erst letzte Woche hier. Das sind zwei
Herren von der Polizei aus Kassel, die ein paar Fragen an dich haben.«
Aurich zog Lenz am Ärmel
zu sich herunter. »Sag dieser Person, dass sie gehen soll, Bertram. Meine Frau
kommt bald nach Hause, und ich möchte nicht, dass sie dann noch hier ist. Was
soll denn meine Anita denken, wenn hier jeden Tag eine andere fremde Frau
herumschwirrt?«
»Aber das ist doch …«,
begann der Kommissar, wurde jedoch von Frau Aurich mit einer Kopfbewegung
unterbrochen.
»Damit kommen Sie nicht
weiter. Stellen Sie ihm Ihre Fragen, dann werden wir sehen, was dabei
herauskommt.«
Lenz machte sich
vorsichtig von Aurichs Hand frei und stellte sich wieder auf. »Herr Aurich, wir
haben ein paar Fragen zu Ihrem alten Arbeitsplatz, in Wabern, im Karlshof.«
Der Mann im Ledersessel
schenkte ihm ein Grinsen. »Ottmar, du musst mich doch nicht siezen. Sag einfach
weiter Bernhard zu mir. Nein, Bertram. Bertram musst du sagen.«
»Gut, Bertram«, beugte
sich Lenz wieder zu ihm hinunter. »Kannst du dich an deine Zeit in Wabern
erinnern?«
»Wabern«, echote Aurich.
»Kannst du dich an die
Zeit dort erinnern?«
»Klar. Hat immer nach
Zuckerfabrik gestunken dort. Jeden Tag hat es nach Zuckerfabrik gestunken. Aber
besonders im Herbst, wenn die Rüben geerntet worden sind.«
Der klein gewachsene Mann
mit dem vollen, schwarzen Haar bekam plötzlich wache, helle Augen. »Ich weiß
alles über Wabern. Ich habe dort gearbeitet. Im Karlshof.
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