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Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall

Titel: Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P Gibert
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schreien, doch
auch seine Stimme schien ihm nicht zu gehorchen.
    Beruhig dich, schoss es
ihm durch den Kopf. Beruhig dich! Er dachte an Louis Bracht und fragte sich, ob
er ihn jemals wiedersehen würde. Vor seinen Augen tanzten nun bunte Sterne, was
er auf die Unterversorgung mit Sauerstoff zurückführte. Himmel, ich werde
sterben, dachte er. Ich liege hier im Flur dieser versifften Wohnung und werde
sterben. Dann plötzlich wurde ihm warm. Sein ganzer Körper wurde von einer
heimeligen Woge erfasst, die ihn schlagartig beruhigte. Schön, dachte er, hob
die Augen, und ließ den Blick über den Teppich gleiten. Direkt vor ihm, aber
trotzdem in unerreichbarer Ferne, lag das Bild von Louis Bracht, das er kurz
vor dem Läuten der Türklingel vom Nachttisch genommen und die ganze Zeit über
in der Hand gehalten hatte.
    Wenn du nur hier wärst,
Louis.
    Melchers wusste, dass etwas Schreckliches mit ihm passiert war. Dass
der Mann, der ihm die Nase gebrochen hatte, es ihm angetan hatte. Was es genau
war, konnte er sich nicht vorstellen.
    Dann wurde es schwarz um
ihn herum.

19
    Lenz
saß auf dem Beifahrersitz in Hains kleinem Mazda-
Cabriolet und blätterte in einem Jahresplaner mit der Aufschrift ›1974‹ .
Dann legte er das kunstledergebundene
Diarium auf der Mittelkonsole ab, hob die Arme, streckte sich, und sah seinen
Kollegen an.
    »Bis auf diesen Schlieper
waren alle aus dem ehemaligen Karlshof, egal, ob Bewohner oder Erzieher, bis
jetzt völlige Pflegefälle, Thilo. Wer weiß, vielleicht haben die damals was ins
Essen gemischt gekriegt, das erst viel später seine schwerwiegenden Folgen
offenbart hat.«
    Hain sah ihn mit einem
strafenden Blick an. »Sei froh, dass ich dich schon ein paar Tage kenne und
deine spinnerten fünf Minuten einordnen kann. Sonst hättest du jetzt gute
Karten, für längere Zeit in der Geschlossenen zu verschwinden, mein Freund.«
Damit griff er zu dem Tagebuch und fing an, darin zu schmökern. Zunächst fand
er eher langweilige, sich ständig wiederholende Einträge aus dem Winter 1974,
die, ebenso wie die anderen Vermerke, auch noch in einer sehr schwer zu
entziffernden Schrift verfasst waren. Einträge, die sich mit Aurich und seiner
Frau beschäftigten, ignorierte er, dem Versprechen, das er ihr gegeben hatte,
folgend.
    Kollege Guderjahn wird auch immer fetter,
las der Oberkommissar unter dem Datum vom 18.
November 1974.
    Hat wieder gefressen wie ein Schwein in der Kantine.
    Oder, eingetragen am 12.
Oktober 1974: Die Heimleitung weist zum wiederholten Mal darauf hin,
dass sich die Zöglinge ihre Schallplatten nicht vom Kleidergeld kaufen dürfen
(!!!).
    Hain blätterte zurück und
blieb an einem Eintrag vom 19. September 1974 hängen. »Hier wird es
langsam interessant«, sprudelte er hervor.
    Dieter Bauer ist und bleibt ein eitler, selbstgefälliger
Parvenü, der am besten als Gockel auf der Mädchengruppe aufgehoben wäre.
    Lenz nahm dem Kollegen
das Buch aus der Hand, las den Satz noch einmal laut vor, und blätterte ein
paar Seiten zurück. Am 10. September 1974 hatte Aurich neben ein paar
anderen Gedanken auch etwas über Ruth Liebusch zu Papier gebracht.
    Schöner, sonniger Spätsommertag heute. Bin leider eine
Stunde zu spät zum Dienst gekommen, weil der Keilriemen des Käfers gerissen
war. 2,82 DM plus 3,-- DM fürs Wechseln.
    Aufruhr auf der Gruppe, nachdem D. Bauer ihnen mitgeteilt
hat, dass es ab dem nächsten Jahr weniger Taschengeld geben wird.
    Ruth steckte heute mal wieder bis zum Anschlag in Dieters
Hintern. Diese hässliche, dumme Pute glaubt wohl, dass es mit ihr und ihm doch
wieder etwas werden könnte.
    (Noch zwei Monate, dann habe ich es endlich geschafft und
kann ins Haupthaus zurück!)
    Außerdem hat sie wieder dermaßen aus dem Maul gestunken,
dass es kaum auszuhalten war. Kann ihn gut verstehen, dass er sie gegen etwas
Jüngeres ausgetauscht hat.
    »Offenbar hatte dieser
Bauer was mit Ruth Liebusch gehabt«, fasste Lenz zusammen, nachdem er laut
vorgelesen hatte.
    »Behauptet Bertram Aurich
in diesem 35 Jahre alten Tagebuch«, relativierte sein Kollege. Lenz überflog
ein paar weitere Seiten und kam zum 22. Juni 1974.
    Großes Palaver, weil Wolfgang Westler heute von der
Polizei auf die Gruppe zurückgebracht wurde. Er hatte sich wieder nachts
abgesetzt, ein Auto geklaut, und es kaputtgefahren. Bauer meint, die Gruppe
habe davon gewusst, und hat ihnen den Fernsehabend gestrichen. Deutschland
gegen die

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