Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall
draußen mitnimmst. Ich will sie nicht im Haus haben,
sie ist nicht gut zu mir.«
»Auch daran werde ich
denken«, bemühte Lenz sich zu versichern und hatte die Tür erreicht. »Aber sie
ist …«
»Lassen Sie es«, wurde er
von Anita Aurich unterbrochen, die leise die Tür geöffnet hatte und die
Kommissare mit auf die Lippen gelegtem Zeigefinger in die Küche bat. Im
Wohnzimmer wurde der Ton des Fernsehers lauter gedreht.
»Möchten Sie etwas
trinken?«, fragte die Frau mit Tränen in den Augen.
»Sehr gern, vielen Dank«,
antworteten die Polizisten mit belegter Stimme.
»Es
hat vor drei, nein, knapp vier Jahren angefangen«, erklärte Anita Aurich den
Beamten. »Zuerst war es gar nicht so schlimm, aber mit der Zeit ist es nahezu
unerträglich geworden. Und jetzt bin ich an einem Punkt angelangt, wo ich
einfach nicht mehr weiterweiß.«
Lenz nickte zustimmend.
»Das kann ich verstehen, Frau Aurich. Was machen Sie denn, wenn er von Ihnen
verlangt, das Haus zu verlassen, weil er auf seine Frau wartet?«
»Die ganze Zeit habe ich
es mit Gleichmut ertragen. Letzte Woche ist es mir aber zu viel geworden und
ich bin wirklich gegangen, für eine halbe Stunde etwa.«
»Und?«
»Als ich wiederkam, hat
er mich erkannt und sich anfangs auch richtig gefreut, nach einer Viertelstunde
jedoch ging das ganze Theater von vorne los.«
»Haben Sie daran gedacht,
sich professionelle Hilfe zu organisieren?«
»Einen Pflegedienst? Was
soll der denn machen? Ihm erklären, dass ich seine Frau bin? Nein, das würde
nichts bringen, weil er erstaunlicherweise seinen Körper hegt und pflegt wie
vor der Erkrankung.«
Der Hauptkommissar zuckte
hilflos mit den Schultern.
»Ja, da weiß man auch als
gestandener Mann nicht, was man sagen soll«, war die Reaktion der Frau, die
Lenz mit einem weiteren verlegenen Schulterzucken quittierte.
»Trotz alledem hätten wir
uns natürlich von Ihrem Mann ein wenig Hilfe erwartet.«
»Es geht, wenn ich
richtig vermute, um seine beiden getöteten ehemaligen Kollegen, oder?«
»Ja. Aber leider waren
die Erinnerungen an die damaligen Ereignisse bei ihm nicht mehr ganz korrekt.«
»Sie haben ihn nach Ruth
Liebusch und Dieter Bauer gefragt?«
»Ja.«
»Eigentlich sollte er
sich an sie erinnern können, die beiden waren einige Zeit mit ihm auf der
gleichen Gruppe.«
»An die beiden konnte er
sich erinnern, er hat aber leider eine Heimbewohnerin mit der Frau des
damaligen Heimleiters verwechselt.«
»Frau Schemsky? Inge
Schemsky?«
»Den Namen habe ich noch
nie gehört«, gab Lenz erstaunt zurück.
»Das war die Frau eines
ehemaligen Heimleiters, der irgendwann mit einer jungen Erzieherin
durchgebrannt ist.«
»Ja, die Dame hat er mit
einer ehemaligen Bewohnerin des Karlshofs verwechselt.«
»Um welche Zeit geht es
bei Ihrer Untersuchung?«
»Die 70er-Jahre.«
»Hm«, machte sie. »Eine
wilde Zeit. Damals, Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre, hat mein Mann
umgeschult und danach im Karlshof angefangen.«
»Ach«, mischte Hain sich
interessiert ein, »Ihr Mann war auch einer von den Erziehern, die …« Er
stockte.
»Ja, sprechen Sie es nur
aus«, nahm sie seinen Faden auf. »Dass er einer von denjenigen war, die auf dem
dritten oder vierten Bildungsweg Erzieher geworden sind. Aber er hat wenigstens
später seinen Abschluss nachgemacht, damit er nicht weiter unter den
Anfeindungen der ›richtigen‹ Pädagogen leiden musste.«
»Wie hat er das gemacht?«
»Der LWV hat denjenigen
Erziehern, die er zehn Jahre zuvor händeringend gesucht und eingestellt hatte,
die Pistole auf die Brust gesetzt. Entweder ihr macht einen richtigen Abschluss
oder ihr könnt dahin zurückgehen, wo ihr hergekommen seid. Nach zehn Jahren!
Mein Mann, genauso wie Dieter Bauer übrigens, haben es auf sich genommen und
auch bestanden, was nicht vielen gelungen ist. Er ist zwei Jahre lang immer
wieder nach Wiesbaden gependelt dafür.«
»Wann genau hat er mit
Herrn Bauer und Frau Liebusch auf der gleichen Gruppe gearbeitet?«
»1973 und 1974.«
»Und Sie machen sich gar
keine Gedanken darüber, warum man die beiden umgebracht hat?«
Sie lächelte verhalten.
»Doch, natürlich.«
»Warum lachen Sie?«
»Was, glauben Sie, sollte
ich tun, wenn einer käme, der Bertram etwas antun will? Sollte ich mich opfern,
um es zu verhindern? Sollte ich nach ihm schlagen oder treten? Sollte ich
sofort die Polizei rufen? Wegen eines Menschen, der Tag für Tag
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