Schmutzengel
hatte, wurde zur urplötzlichen Erkenntnis: Der Mann war tot.
Natürlich bin ich in keiner Weise qualifiziert, das festzustellen, schon gar nicht aus einer Entfernung von ungefähr zwei
Metern, aber ich war mir trotzdem sicher. Zumal die Temperatur, die mir aus der offenen Tür entgegenschlug, keinesfalls höher
war als die Außentemperatur. Und die näherte sich nach einer Tageshöchsttemperatur von drei Grad nun wieder dem Gefrierpunkt.
Ich schloss die Tür, lehnte mich von außen dagegen und atmete mit rasselnden Bronchien tief durch.
Auf Omas Bauernhof hatte ich als Kind beim Schlachten geholfen, aber das war lange her und außerdem handelte es sich bei den
bedauernswerten Todesopfern um Hühner oder Rinder, selten Lämmer, aber nie um erwachsene Männer. Überhaupt hatte ich außer
meinem Opa noch nie einen toten Menschen gesehen. Mein über alles geliebter, toter Opa hatte – wie es bei uns üblich ist –
einen ganzen Tag lang aufgebahrt im Wohnzimmer gelegen, während dieFamilie und die Freunde kamen, um sich von ihm zu verabschieden. Das war ziemlich schrecklich gewesen, und ich heulte weil,
Opa tot und Oma jetzt allein war, aber es war trotzdem nicht mit der Situation zu vergleichen, in der ich mich jetzt befand.
Wenigstens hatte ich den Tod dieses Mannes nicht verursacht. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass er sich ausgerechnet
einen Kühlraum als Schlafstätte erwählt, und dann auch noch einschläft, bevor er merkt, dass die Temperatur immer weiter sinkt
statt steigt. Ich hatte ihn also nicht umgebracht, aber die Anwesenheit einer Leiche in einem von mir betreuten Anwesen war
mir trotzdem unangenehm. Eine Leiche warf einfach ein schlechtes Licht auf mein Unternehmen. Außerdem wurde meine Zuverlässigkeit
stark infrage gestellt. Ich hatte keine andere Wahl. Die Leiche musste weg.
Mit halbherziger Entschlossenheit öffnete ich wieder die Tür des Kühlraums und trat ein. Der Thermostatregler war tatsächlich
auf die niedrigste Stufe geschaltet. Vermutlich hatte der arme Kerl in Unkenntnis oder sogar in Panik wie wild an dem Regler
gedreht und dabei nicht die höchste, sondern die niedrigste Einstellung erwischt.
Zögernd ging ich zu der zerlumpten Gestalt. Wie konnte ich überhaupt feststellen, dass er wirklich ganz tot war? Vorsichtig
legte ich einen Finger an die Stelle, an der ich die Halsschlagader vermutete. Das war nicht schwierig, denn der Körper lag
auf der Seite, sodass der Kopf nach unten gesunken war und die rechte Seite des Halses freigab.
Mein Finger spürte Kälte, aber keinen Puls. Ich zog ihn schnell zurück. Der Mann war wirklich tot.
Erst in diesem Moment realisierte ich das ganze Ausmaß meines Problems. Meines grandiosen Problems. Meines katastrophal grandiosen
Problems. Eine Leiche im Haus einesKunden, in dem ich gestern aus lauter Doofheit vergessen hatte, die Tür zu schließen. Eine Leiche! Ein Eindringling, der sich
noch nicht einmal auf dem Grundstück hätte befinden dürfen, vom Inneren des Hauses ganz zu schweigen. Und dann starb der auch
noch hier. Ausgerechnet hier und jetzt!
Meine Beine zitterten so stark, dass ich mich an die Wand lehnen musste und langsam aber sicher mit dem Rücken daran entlang
herabrutschte. Jetzt befand ich mich fast auf gleicher Höhe mit der Leiche, wenn auch zum Glück nicht Auge in Auge. Ich blickte
auf durchgelatschte Schuhsohlen Größe fünfundvierzig. Die Zahl war noch erkennbar, obwohl die Sohlen unter den Fußballen hauchdünn
waren. Dieses Detail hatte zwar nichts mit meinem Problem und schon gar nichts mit dessen Lösung zu tun, aber es fiel mir
trotzdem auf. Als wehre sich mein Bewusstsein gegen die naheliegenden Fragen und bearbeite stattdessen vollkommen uninteressante
Beobachtungen wie die Qualität der Schuhsohlen des Verblichenen.
Ich rappelte mich auf. Hängen lassen gilt nicht, das habe ich von Oma gelernt. Es gab ein ernstes Problem und das musste ich
lösen. Bloß wie?
Sobald ich wieder aufrecht stand, wurde mir schwummrig. Offenbar war mein Kreislauf der Situation nicht gewachsen. Ich konnte
den Blick nicht von dem Toten neben mir wenden, konnte aber auch mit seinem Anblick vor Augen keinen klaren Gedanken fassen.
Ich vergewisserte mich, dass der Türhebel unten war und wankte zu meinem Auto. Auf dem Fahrersitz ließ ich den Kopf aufs Lenkrad
sinken und atmete tief durch. Ich fand ein Halsbonbon und steckte es mir in den Mund, um den metallischen Geschmack zu
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